Modul 2: Indikatoren für häusliche Gewalt

Identifizierung häuslicher Gewalt
Indikatoren bei Erwachsenen
Indikatoren bei Kindern
Häufige radiologische Befunde
Aufdeckung häuslicher Gewalt in der Zahnarztpraxis
Zeugen und Zeuginnen häuslicher Gewalt

Einführung ins Thema

Opfer, die häuslicher Gewalt ausgesetzt sind, suchen oft zuerst Ärzte und Ärztinnen wegen der damit verbundenen seelischen oder physischen Verletzungen auf. Häufig erzählen sie jedoch aus Scham, Angst vor Verurteilung oder aus Angst vor dem Partner bzw. der Partnerin nichts über die Gewalt. Um gegen häusliche Gewalt vorzugehen, ist es wichtig, dass die Opfer frühzeitig identifiziert werden und die Gewalt so früh wie möglich offengelegt wird.

Lernziele

Die Lernziele dieses Moduls bestehen darin, die verschiedenen Indikatoren für häusliche Gewalt und die damit verbundenen Risiken kennenzulernen und dafür sensibilisiert zu werden.


S.I.G.N.A.L. e.V.: Signale wahrnehmen – statt wegschauen


Fallstudie: Offenlegung häuslicher Gewalt in der Arztpraxis

Wir befinden uns in einer Hausarztpraxis und eine 25-jährige Patientin kommt in die Sprechstunde.

A: „Guten Morgen Frau Schmidt, was kann ich heute für Sie tun?“

P: „Ich fühle mich momentan total überlastet und wollte fragen, ob Sie mich vielleicht für zwei Wochen krankschreiben können.“

A: „Gibt es einen bestimmten Grund, warum Sie sich überlastet fühlen? Ist das früher schon mal aufgetreten?“

P: „Ich habe mich noch nie zuvor wegen Überlastung krankschreiben lassen. Ich habe mich gerade frisch getrennt und mir wird momentan einfach alles zu viel.“

A: „Ich kann Sie natürlich gerne krankschreiben. Aber wenn Sie sich durch die Situation so überlastet fühlen, würde ich Ihnen gerne noch weitere Hilfe anbieten. Möchten Sie vielleicht mit mir darüber sprechen?“

P: „Mmh, mir ist es eigentlich sehr unangenehm, darüber zu sprechen. In meiner früheren Beziehung gab es einige Probleme. Mein Freund war sehr kontrollsüchtig und hat immer mein Handy kontrolliert. Wir hatten ständig Streit, sobald ich mich mit meinen Freunden oder meiner Familie treffen wollte. Dadurch habe ich mich immer mehr isoliert und war irgendwann nur noch mit meinem Freund unterwegs. Nachrichten von meinen Freunden wurden gelesen, bevor ich sie lesen konnte. Ich habe mich dann doch letztendlich getrennt, aber ich weiß nicht, ob das die richtige Entscheidung war.

A: „Wenn Ihr Freund Sie so kontrolliert und drangsaliert hat, warum denken Sie, dass die Trennung nicht richtig war?“

P: „Er ruft mich ständig an und schickt mir Nachrichten. Er setzt mich unter Druck, indem er sagt, dass er ohne mich nicht leben könne und sich was antue, wenn ich nicht mehr zurückkäme. Ständig sehe ich sein Auto auf dem Parkplatz, egal ob beim Einkaufen, an der Arbeit oder beim Treffen mit Freunden. Immer habe ich das Gefühl, dass er in der Nähe ist. Kann das noch Zufall sein? Ich habe mich bereits zweimal mit ihm getroffen, weil er mir so leid tat und ich Angst hatte, dass er sich wirklich etwas antut.“


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Identifizierung häuslicher Gewalt

Die Gesundheitsprobleme eines Opfers können durch Gewalt verursacht oder verschlimmert werden. Opfer, die häuslicher Gewalt ausgesetzt sind, suchen Ärzte und Ärztinnen wegen der damit einhergehenden emotionalen oder physischen Zustände, einschließlich Verletzungen, auf. Häufig erzählen sie jedoch aus Scham, Angst vor Verurteilung oder aus Angst vor dem Partner bzw. der Partnerin nichts über die Gewalt. Fachkräfte des Gesundheitswesens sind für viele eine erste Anlaufstelle.

Verschiedene Indikatoren machen es möglich zu erkennen, dass ein Patient bzw. eine Patientin möglicherweise häuslicher Gewalt ausgesetzt sein könnte. Einige davon sind recht subtil, und es ist wichtig, aufmerksam zu bleiben und angemessen zu reagieren. Einige Opfer geben auch Hinweise in ihrem Verhalten. Sie sind darauf angewiesen, dass man ihnen zuhört, beharrlich ist und sich nach Zeichen und Hinweisen erkundigt. Die Gespräche sollten unter vier Augen geführt werden, Einzelheiten des Verhaltens, der Gefühle und der Verletzungen, die gesehen und gemeldet werden, sollten dokumentiert werden und die Opfer sollten dabei unterstützt werden, Maßnahmen zu ergreifen, die den Organisationsstrukturen und örtlichen Gepflogenheiten entsprechen.

Um die Diagnose und die anschließende Versorgung von Patientinnen und Patienten zu verbessern, sollten Mitarbeitende des Gesundheitswesens bei der Aufnahme der Anamnese immer auch nach häuslicher Gewalt fragen.

Viele Gesundheitseinrichtungen sind belebte Orte, an denen Menschen in Kabinen und Büros ein- und ausgehen. Das ist nicht die passende Umgebung, häusliche Gewalt anzusprechen oder über Gefühle zu sprechen.


Experteninterview mit Sabine Eder zu Modul 2: Indikatoren für häusliche Gewalt

Sabine Eder ist Gesundheits- und Krankenpflegerin, Fachbereichskoordinatorin und die stellvertretende Leiterin der Opferschutzgruppe (OSG) des Allgemeinen Krankenhauses (AKH) der Stadt Wien. Gemäß § 15 Wiener Krankenanstaltengesetz „Früherkennung von Gewalt“ wurde die Opferschutzgruppe eingerichtet. Seit dem 1. Januar 2009 schreibt dieses die verpflichtende Einrichtung von Opferschutzgruppen in Zentral- und Schwerpunktkrankenhäusern vor. Diese umfassen ärztliche Vertreterinnen und Vertreter der Frauenheilkunde, der Unfallmedizin und der Psychiatrie, des Pflegedienstes sowie der psychologischen oder psychotherapeutischen Versorgung. Die ambulanten Stellen der Krankenanstalten sind oft die erste Anlaufstelle von gewaltbetroffenen Personen und stellen somit eine wichtige Schnittstelle zu Beratungsstellen dar. Es besteht eine enge Zusammenarbeit mit der Kinderschutzgruppe des AHK. Die Opferschutzgruppe bietet einen wichtigen Beitrag zur Früherkennung und Frühintervention von gewaltbetroffenen Personen. Die Aufgaben des AKH Wien beinhalten die Beratungstätigkeit der betreuenden Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern von Erwachsenen bei Verdacht bzw. Vorliegen von Anzeichen von sexueller, körperlicher und psychischer Gewalt, die Sensibilisierung der in Betracht kommenden Berufsgruppen für Gewalt, das Erstellen von Dokumenten zum strukturierten Vorgehen bei Fragen des Opferschutzes, die Organisation von internen und externen Fortbildungen sowie die Spurensicherung und interdisziplinäre Zusammenarbeit. In dem folgenden Interview beantwortet Sabine Eder die Fragen, wie häusliche Gewalt bei Patientinnen und Patienten im Krankenhaus identifiziert werden kann und welche Indikatoren für häusliche Gewalt vorliegen können.


Indikatoren bei Erwachsenen

Im Folgenden sind Indikatoren aufgeführt, die mit Opfern häuslicher Gewalt in Verbindung gebracht werden, jedoch auch in anderen Zusammenhängen auftreten können. Einige Indikatoren sind recht subtil – es ist wichtig, aufmerksam zu bleiben und angemessen zu reagieren. Einige Opfer geben auch Hinweise im Gespräch und ihr Verhalten kann ebenfalls aufschlussreich sein. Opfer sind daher darauf angewiesen, dass man ihnen zuhört, beharrlich ist und sich nach Zeichen und Hinweisen erkundigt. Die Verwendung dieser Indikatoren kann die Praxis des direkten Fragens ergänzen.

Physische Indikatoren
  • Unerklärliche Blutergüsse und andere Verletzungen (insbesondere Kopf-, Hals- und Gesichtsverletzungen, Blutergüsse verschiedener Stadien, erlittene Verletzungen passen nicht zur Anamnese, Biss-Spuren, ungewöhnliche Verbrennungen, Verletzungen an nicht einsehbaren Körperteilen (einschließlich Brust, Bauch und/oder Genitalien), insbesondere bei einer Schwangerschaft
  • Fehlgeburten und andere Schwangerschaftskomplikationen
  • Chronische Erkrankungen einschließlich Kopfschmerzen, Schmerzen und Beschwerden in Muskeln, Gelenken und Rücken
  • Sexuell übertragbare Infektionen und andere gynäkologische Probleme
Psychologische Indikatoren
  • Emotionale Belastung, z. B. Angst, Unentschlossenheit, Verwirrung und Feindseligkeit
  • Schlaf- und Essstörungen
  • Angstzustände/Depressionen/pränatale Depressionen
  • Psychosomatische Beschwerden
  • Selbstverletzung oder Selbstmordversuche
  • Ausweichend oder beschämt über Verletzungen
  • Der Partner bzw. die Partnerin oder ein anderes Familienmitglied übernimmt den Großteil der Gespräche und besteht darauf, bei dem Patienten bzw. der Patientin zu bleiben
  • Ängstlich in der Gegenwart des Partners bzw. der Partnerin oder eines anderen Familienmitgliedes
  • Widerwille, Ratschläge zu befolgen
  • Soziale Isolation/kein Zugang zu Verkehrsmitteln
  • Unterwürfiges Verhalten/geringes Selbstwertgefühl
  • Alkohol- oder Drogenmissbrauch
  • Angst vor Körperkontakt
  • Nervöse Reaktionen auf Körperkontakt/schnelle und unerwartete Bewegungen
Sonstige Indikatoren
  • Mehrere Vorstellungen in der Notaufnahme
  • Patient/Patientin erscheint nach der offiziellen Sprechstunde
  • Häufige Abwesenheit beispielsweise von der Arbeit oder vom Studium
Mögliche Indikatoren für sexuelle Gewalt
  • Selbstschädigendes Verhalten
  • Ungewollte Schwangerschaften/Abtreibungen
  • Komplikationen während der Schwangerschaft
  • Fehlgeburten

Indikatoren bei Kindern

Physische Indikatoren
  • Schwierigkeiten beim Essen/Schlafen
  • Langsame Gewichtszunahme bei Säuglingen
  • Körperliche Beschwerden
  • Essstörungen
Psychologische Indikatoren
  • Aggressives Verhalten und aggressive Sprache
  • Depressionen, Angstzustände und/oder Selbstmordversuche
  • Nervöses und zurückgezogenes Auftreten
  • Schwierigkeiten, sich an Veränderungen anzupassen
  • Regressives Verhalten bei Kleinkindern
  • Verzögerungen oder Probleme bei der Sprachentwicklung
  • Psychosomatische Krankheiten
  • Ruhelosigkeit und Konzentrationsprobleme
  • Abhängige, traurige oder verschwiegene Verhaltensweisen
  • Bettnässen
  • Tierquälerei
  • Auffälliger Rückgang der Schulleistungen
  • Kämpfen mit Gleichaltrigen
  • Überfürsorglich oder Angst davor, die Mutter oder den Vater zu verlassen
  • Diebstahl und soziale Isolation
  • Sexuell missbräuchliches Verhalten
  • Gefühle der Wertlosigkeit

Häufige radiologische Befunde

Die folgende Darstellung bezieht sich insbesondere auf häusliche Gewalt gegen Erwachsene. Ein spezieller Aspekt im weiteren Kontext ist Kindesmisshandlung (für deren Erkennung können radiologische Befunde ausschlaggebend sein).

Umstände der Klinikvorstellung
  • In vielen Fällen geben Opfer häusliche Gewalt nicht als Grund einer Verletzung bzw. Klinikvorstellung an.
  • Auch ärztliche Vorstellungen, bei denen es nicht direkt um eine Verletzung geht, können Hinweise auf häusliche Gewalt liefern.
  • Opfer häuslicher Gewalt erhalten häufiger radiologische Untersuchungen, insbesondere für traumatische Fragestellungen (in einer Studie (George et al., 2019) etwa viermal öfter als bei Kontrollen).
Häufige, mittels Bildgebung erkennbare Verletzungen
  • Verletzungen der Geschlechtsorgane (auch in der Schwangerschaft, z. B. Chorionhämatom)
  • akute Frakturen (insbesondere im Gesichtsbereich, z. B. Nasenbeinfraktur, Orbitabodenfraktur; aber auch Frakturen der Extremitäten)
  • subakute und zeitlich unklare Frakturen (insbesondere Gesicht, Extremitäten und Wirbelsäule)
  • Weichteilverletzungen (z. B. Hämatome und Lazeration)
Bewertung der Bildbefunde und Rolle der Radiologie
  • Radiologische Befunde und Bilddaten tragen auch zur Dokumentation des physischen Verletzungsausmaßes bei.
  • Die Verletzungsmuster bei erwachsenen Opfern häuslicher Gewalt ähneln allerdings denen aufgrund anderer Verletzungsursachen.
  • Der prädiktive Wert einer radiologischen Untersuchung für das mögliche Vorliegen von häuslicher Gewalt ist begrenzt, der Gesamtkontext kann jedoch durch deren Beachtung besser eingeschätzt und der Wert dadurch gesteigert werden.
  • Dazu können gehören: nicht zur Anamnese passende Verletzungsmuster, die Darstellung mehrzeitiger Verletzungen und gehäufte radiologische Untersuchungen in der Vergangenheit.
  • Die ergänzende Sichtweise des Radiologen/der Radiologin auf den Fall und die oft etwas ruhigere Situation beim Anfertigen und Befunden der Untersuchungen (verglichen mit der Notaufnahme) können dadurch das Identifizieren häuslicher Gewalt erleichtern.

Aufdeckung häuslicher Gewalt in der Zahnarztpraxis

Die Aufdeckung häuslicher Gewalt kann auch in der Zahnarztpraxis eine wichtige Rolle spielen, da diese von betroffenen Patientinnen und Patienten regelmäßig aufgesucht wird. (Zahn-)Ärztinnen und (Zahn-)Ärzte unterliegen – im Rahmen ihrer Berufsausübung – permanent der (zahn-)ärztlichen Berufsordnung und der ärztlichen Schweigepflicht (§ 203 Strafgesetzbuch [StGB]). Eine Gefahr für Leib und Leben („Gefahr im Verzug“) würde im Einzelfall – unter sorgfältiger Abwägung der Gesamtumstände – das Durchbrechen der ärztlichen Schweigepflicht gemäß § 34 StGB (Rechtfertigender Notstand) ermöglichen und rechtfertigen.

Trotzdem ist es wichtig, dass zahnärztliches Fachpersonal gezielte Fragen stellt, Verdachtsfälle nachverfolgt und auf mögliche Gewalteinwirkungen zurückzuführende auffällige Befunde und Verletzungen zeitnah, eindeutig und gerichtsverwertbar dokumentiert.

Empfehlungen für die tägliche Praxis

Man unterscheidet verschiedene Phasen der Unterstützung. Grundsätzlich gilt jedoch, Patientinnen und Patienten regelmäßig zu befragen, sollten Sie Verdacht schöpfen. Der erste Schritt besteht darin, dass das potenzielle Opfer sich traut, über die erlebte Gewalt zu sprechen. Dabei sollten Sie Folgendes beachten:

  • Achten Sie darauf, dass die Patienten und Patientinnen mit Ihnen allein sind und frei sprechen können. Viele kommen in Begleitung der Kinder oder gar der Partner zu Ihnen in die Praxis.
  • Allgemeine Fragen können Ihnen helfen, das Thema anzusprechen: „Wie läuft es zu Hause?“, „Wie kommen Sie mit Ihrem Partner / Ihrer Partnerin zurecht?“. Direkte Fragen können im Gesprächsverlauf dazu führen, dass das mutmaßliche Opfer sich mehr öffnet: „Wurden Sie jemals von Ihrem Partner / Ihrer Partnerin verbal/physisch/emotional/sexuell missbraucht?“
  • Hören Sie gut zu, wenn ein Opfer sich öffnet und kommunizieren Sie unbedingt, dass es die richtige Entscheidung war, über die Erfahrungen mit häuslicher Gewalt zu sprechen. Machen Sie klar, dass häusliche Gewalt, egal in welcher Form, nicht annehmbar ist.
  • Vermeiden Sie Fragen, die das Opfer in die Rolle des Schuldigen stellen, wie etwa „Warum leben Sie noch mit Ihrem Partner / Ihrer Partnerin zusammen?“ oder „Hätten Sie die Situation vermeiden können?“.

Wenn sich ein Verdacht erhärtet oder bestätigt, folgt der zweite Schritt, der als fortlaufender Prozess zu sehen ist, da das Risiko für Ihre Patientinnen und Patienten immer neu von Ihnen eingeschätzt werden sollte:

  • Befragen Sie das Opfer nach dem Verhalten des Partners / der Partnerin in der Vergangenheit, um daraus mögliche Schlüsse auf das Verhalten in der Gegenwart und in der Zukunft zu ziehen. Lassen Sie das Opfer dabei stets an Ihren Überlegungen teilhaben.
  • Fragen Sie, ob das Opfer und möglicherweise beteiligte Kinder sich aktuell sicher zu Hause fühlen und erarbeiten Sie gemeinsam einen Notfallplan für den Ernstfall. Dabei sollten mögliche Anlaufstellen und Telefonnummern (Polizei, Frauenhäuser etc.) sowie mögliche Unterkünfte und Fluchtwege besprochen sowie schriftlich dokumentiert werden.

Sollte es in der Zukunft zu einem juristischen Prozess kommen, werden Sie als zahnmedizinisches Fachpersonal gegebenenfalls zum Opfer befragt, deshalb sollten Sie alles gut dokumentieren: 

  • Dokumentieren Sie Verdachtsfälle sehr genau – mit Datum, Körperstelle, Zustand der Verletzung bezogen auf das vermutete Alter und das jetzige Aussehen. Dies gilt auch für unbestätigte Fälle.
  • Auffälliges Verhalten sollte ebenfalls genau beschrieben werden. Des Weiteren können Sie besondere Aussagen des Patienten / der Patientin, die Ihren Verdacht stützen, als Zitat in die Akte einfügen.
  • Fertigen Sie, wenn möglich, Fotos an, die Ihre Dokumentation unterstützen.

Die Gewalt richtet sich oftmals gegen den ungeschützten Hals und Kopf, sodass Sie in diesem Bereich Blutergüsse, Prellungen, Stich- und Schnittverletzungen, aber auch Brandwunden und Würgemale sowie Verletzungen von Zähnen (Lockerungen, Absplitterungen, Abbrüche, Verlust), Kiefern (Prellungen, Luxationen, Frakturen) und/oder Zahnersatz (bis hin zu irreparablen Zerstörungen) feststellen können. Die frühzeitige, sorgfältige und eindeutige zahnärztliche Dokumentation gewaltbedingter Verletzungen (in Wort und Bild) ist für die mögliche spätere strafrechtliche Verfolgung besonders wichtig, da die Spuren einer Gewalteinwirkung im menschlichen Kopf- und Gesichtsbereich meist nur für eine bestimmte Zeit in voller Ausprägung sichtbar sind. Sie befinden sich oftmals bereits nach kurzer Zeit in Heilung oder sind binnen eines kurzen Zeitraums vollständig abgeheilt. Neben der Schrift- und Fotodokumentation sind in manchen Fällen auch zusätzliche Dokumentationen durch Röntgenaufnahmen und/oder Abdrücke der Zähne und Kiefer empfehlenswert.

Für eine gerichtsfeste Fotodokumentation ist es erforderlich, dass Sie die Verletzung gemeinsam mit einem Maßstab fotografieren. Falls kein metrischer Maßstab (Lineal, Zollstock etc.) zur Verfügung steht, sollten Sie sich eines alltäglichen Gegenstandes bedienen, der ebenfalls auf dem Foto sichtbar ist: Hierzu zählen beispielsweise Bleistifte oder Ähnliches, die – per Dreisatz – Rückrechnungen zur Verletzungsgröße ermöglichen. Dabei sollten Sie stets Übersichts- und Detailaufnahmen anfertigen: Lage, Größe, Färbung, Konfiguration sowie sonstige Besonderheiten der Verletzungen sollten genauestens dokumentiert werden. Solange kein behördlicher Auftrag vorliegt, sollten Sie das schriftliche Einverständnis zur Fotodokumentation (Schweigepflichtentbindung) bei der verletzten Person oder den Erziehungsberechtigten einholen.

Die Zahnärztekammern sowie die Kassenzahnärztlichen Vereinigungen Nordrhein und Westfalen-Lippe haben – gemeinsam mit verschiedenen Partnern – einen Befundbogen „Forensische Zahnmedizin“ herausgegeben, um eine fachgerechte Dokumentation von möglichen Gewalttaten zu erleichtern. Mithilfe spezieller Fragestellungen, hilfreicher Formulierungsvorschläge sowie Körper- und Zahnschemata werden die Untersuchenden für die zu erhebenden Details sensibilisiert, die für die spätere rechtsmedizinische Einordnung bzw. juristische Bewertung der erhobenen Befunde von wesentlicher Bedeutung sein können.

Der Befundbogen „Forensische Zahnmedizin“ ist online abrufbar unter: https://www.kzvnr.de/medien/PDFs/Zahnärzteseite/Befundbogen_forensische_Zahnmedizin/Befundbogen_Forensik_2011.pdf

Eine Meldepflicht bei den Behörden besteht nur bei minderjährigen Patienten und Patientinnen, da hier das Kindeswohl gefährdet ist. Bei Erwachsenen ist eine Meldung von häuslicher Gewalt bei den Behörden gegen den ausdrücklichen Willen der Patienten und Patientinnen ein Außer-acht-lassen der ärztlichen Schweigepflicht und somit eine Straftat! Eine Ausnahme besteht nur, wenn Sie um das Wohl des Patienten oder der Patientin fürchten, da die Gefahr einer Eigen- oder Fremdverletzung besteht.

Auch bei nachfolgenden Terminen sollten Sie sich stets um das Wohl der jeweiligen Patientin/des jeweiligen Patienten kümmern und die aktuelle Situation zu Hause erfragen. Halten Sie stets Informationen bereit, mit denen Sie diese unterstützen können:

  • In Deutschland ist das Hilfetelefon „Gewalt gegen Frauen“ vom Bundesamt für Familie und zivilgesellschaftliche Aufgaben unter 08000 116 016 rund um die Uhr, auch anonym, in verschiedenen Sprachen anwählbar. Eine Beratung kann sowohl via Telefonat als auch via Online-Chat erfolgen und richtet sich gegen alle Arten der häuslichen Gewalt gegen Frauen [Bundesamt für Familie und zivilgesellschaftliche Aufgaben, 2022].

Quellen:

https://www.zm-online.de/archiv/2022/20/praxis/wie-laeufts-denn-so-zu-hause/

https://www.zmk-aktuell.de/fachgebiete/allgemeine-zahnheilkunde/story/haeusliche-gewalt-was-koennen-zahnaerzte-erkennen-und-was-koennen-sie-tun__3832.html




Zeugen und Zeuginnen häuslicher Gewalt

Bezugspersonen und Familienangehörige, aber auch Nachbarn und Nachbarinnen oder Arbeitskollegen und Arbeitskolleginnen können potenzielle Zeugen und Zeuginnen häuslicher Gewalt werden. Die Kooperation und Einwilligung des Opfers sind die wichtigsten Voraussetzungen, um als Zeuge oder Zeugin zu intervenieren. Eine Intervention durch einen Zeugen oder eine Zeugin kann das Gespräch mit dem Opfer, die Hilfe beim Zugang zu Hilfsdiensten oder die Unterstützung bei der Meldung häuslicher Gewalt an die Behörden umfassen.


Faktoren, die eine Intervention von Zeugen und Zeuginnen hemmen oder fördern

  • Zeugen und Zeuginnen haben häufig den starken Wunsch, einzugreifen, aber nicht unbedingt häusliche Gewalt bei der Polizei anzuzeigen. Die Möglichkeit, anonym zu bleiben, kann sie dazu ermutigen, den Behörden häusliche Gewalt zu melden.
  • Das Verständnis von häuslicher Gewalt und das Wissen, wie Opfer unterstützt werden können, kann Zeugen und Zeuginnen zum Einschreiten motivieren. Dies unterstreicht die Wichtigkeit von Sensibilisierungskampagnen, die das Verständnis fördern, und helfen, die Anzeichen häuslicher Gewalt (insbesondere nicht-körperlicher Gewalt) zu erkennen, sowie eine Anleitung, wie Opfer unterstützt werden können, an die Hand zu geben.
  • Im Gesundheits- und Sozialwesen ist die Meldepflicht ein entscheidender Faktor, denn Zeugen und Zeuginnen sind dazu verpflichtet, den Behörden häusliche Gewalt zu melden. Diese Verpflichtungen unterscheiden sich jedoch von Land zu Land, und der wahrgenommene Konflikt zwischen Melde- und Schweigepflicht kann sie davon abhalten, eine Anzeige zu erstatten.
  • Zeugen und Zeuginnen melden häusliche Gewalt in der Regel eher bei Behörden, wenn Kinder involviert sind. Wenn sie häusliche Gewalt dennoch nicht melden, kann es daran liegen, dass sie besorgt sein könnten, dass die Kinder von ihren Eltern getrennt werden oder als Ergebnis einer polizeilichen Untersuchung ein Trauma erleben.
  • Weitere Faktoren, die Zeugen und Zeuginnen von einem Eingreifen abhalten können, sind eine negative Wahrnehmung des Polizei- und Justizsystems, Angst um die eigene Sicherheit und das Missverständnis, dass häusliche Gewalt eine Privatangelegenheit sei.

Empfehlungen

  • Es besteht großer Handlungsbedarf, Maßnahmen umzusetzen, die Zeugen und Zeuginnen sensibilisieren und zum Handeln ermutigen. Für Fachkräfte, die verpflichtet sind, häusliche Gewalt anzuzeigen, sind weitere Informationen erforderlich.
  • Es ist von entscheidender Bedeutung, dass die Polizei- und Justizbehörden ihre Bemühungen verstärken, Berichte über häusliche Gewalt so zu behandeln, dass sowohl Opfer als auch Zeugen und Zeuginnen geschützt werden.
  • Weitere Forschung ist erforderlich, um sicherzustellen, dass relevante Maßnahmen zur Förderung und Ermöglichung der Zeugenintervention, wie z. B. Sensibilisierungskampagnen und Helplines/Hotlines, überwacht und bewertet werden, um ihre Wirksamkeit zu maximieren.

Weitere Informationen zu den entscheidenden Faktoren für eine Zeugenintervention bei häuslicher Gewalt finden Sie hier: https://eige.europa.eu/gender-based-violence/eiges-work-gender-based-violence/intimate-partner-violence-and-witness-intervention?lang=sl