Modul 7: Prinzipien interorganisationaler Zusammenarbeit und Risikoanalyse bei Fällen häuslicher Gewalt in multiprofessionellen Teams

Diese Materialien werden derzeit aktualisiert und stehen in Kürze in ihrer neuesten Version zur Verfügung.

Organisationsübergreifende Zusammenarbeit
Herausforderungen der behördenübergreifenden Zusammenarbeit
Was macht eine erfolgreiche behördenübergreifende Zusammenarbeit aus?
Komponenten einer erfolgreichen behördenübergreifenden Zusammenarbeit
Prinzipien behördenübergreifender Zusammenarbeit
Zusammenarbeit mit anderen Behörden
Beispiele guter Praxis

Lernziele

Lernziel dieses Moduls ist es, zu verstehen, wie Ersthelfer arbeiten und wieso die Zusammenarbeit in multiprofessionellen Teams bei häuslicher Gewalt die größten Erfolge zeigt.


IMPRODOVA: Warum ist die Zusammenarbeit bei häuslicher Gewalt wichtig?

Das Video weist darauf hin, weshalb die Zusammenarbeit in Fällen häuslicher Gewalt von besonderer Bedeutung ist.


Szenario: Opfer erstattet Anzeige ohne aktuellen Vorfall

Das Opfer kommt auf ein Polizeirevier und erstattet Anzeige, ohne dass ein aktueller Vorfall vorliegt.

Aufgabe

Diskutieren Sie Folgendes:
Welche Maßnahmen stehen Ihnen zur Verfügung?

Die Antworten auf diese Aufgabe sind in den entsprechenden Abschnitten dieses Moduls zu finden.

Mögliche Antworten
  • Klärung und Aufnahme des Sachverhalts: Wer ist der Täter/die Täterin? Wie viele Vorfälle häuslicher Gewalt gab es? Über welchen Zeitraum? In welcher Intensität? Etc.
  • Suche nach Möglichkeiten nachträglicher Beweissicherung: Gab es Zeug*innen? Gab es Arztbesuche? Gibt es Anvertraute? Gibt es Beweise in anderer Form?
  • Aufklärung über Rechte und Pflichten sowie den Verfahrensablauf
  • Gefährdungsbewertung und ggf. Initiierung der notwendig erscheinenden Schutzmaßnahmen (mit Bezug auf den Täter beispielsweise: Gefährderansprache, Wegweisung, Annäherungs- und Kontaktverbot, Ingewahrsamnahme; mit Bezug auf das Opfer: Opferschutzgespräch, ggf. Schutzunterkunft)
  • Weitergabe von Informationen über Unterstützungsangebote (NGOs, öffentlicher Sektor)
  • Vermittlung ins Hilfsnetzwerk, bspw. durch proaktiven Ansatz
  • Informieren des Opfers über Opferrechte und zivilrechtliche (Schutz-)Möglichkeiten

Organisationsübergreifende Zusammenarbeit

Häusliche Gewalt hat schädliche Auswirkungen auf Einzelpersonen, Familien und Beziehungen. Sie beeinträchtigt die Gesundheit, das Wohlergehen und die Erziehung von Kindern, die Zeugen oder Zeuginnen von Missbrauch werden oder diesen erleben. Sie wirkt sich auf die Wirtschaft, Unternehmen und Arbeitgeber und Arbeitgeberinnen in der Gemeinschaft aus, in der die Opfer oder Täter bzw. Täterinnen arbeiten. Sie erhöht die Anforderungen an den Wohnraum und führt zu weiteren Bedürfnissen in der Gesundheits- und Sozialfürsorge. All diese Dienstleistungsanbieter und Agenturen sind betroffen und befassen sich oft auf unterschiedliche Weise mit demselben Problem – mit unterschiedlichen Interventionen und unterschiedlichen Ergebnissen.

Die partnerschaftliche Zusammenarbeit mehrerer Einrichtungen ist die wirksamste Art und Weise, auf operativer und strategischer Ebene auf häusliche Gewalt zu reagieren. Aus- und Fortbildung sowie organisatorische Unterstützung und Supervision sind unerlässlich.

Der Grad des multiplen Engagements von Diensten oder Behörden/Organisationen kann von den Umständen oder der Komplexität jedes einzelnen Falles und der umgebenden Situation abhängen. Auch die Verfügbarkeit von Diensten in der örtlichen Umgebung spielt eine Rolle. Verschiedene Dienste kommunizieren nicht immer miteinander oder dürfen teils aus datenschutzrechtlichen Gründen keine Informationen austauschen, was zu einem Mangel an Informationsaustausch führt. Folglich muss das Opfer seine bzw. ihre Informationen, einschließlich der Einzelheiten seiner bzw. ihrer Missbrauchserfahrungen wiederholt verschiedenen Personen in verschiedenen Organisationen zur Verfügung stellen. Die Erinnerung an das Erlebte selbst kann für die Opfer traumatisch sein und sie folglich davon abhalten, Unterstützung in Anspruch zu nehmen.

Quelle: Polizei Berlin

Herausforderungen der behördenübergreifenden Zusammenarbeit

Die behördenübergreifende Arbeit hat ihre eigenen Herausforderungen.

Grundsätzlich haben verschiedene Agenturen und Dienstleister unterschiedliche organisatorische Aufgaben, Visionen, Werte, Ziele und Absichten. Sie haben unterschiedliche Ziele und Aufträge und können auch unterschiedliche Regeln, Vorschriften und Arbeitsmechanismen haben. Das macht es für die Fachleute in diesen Agenturen schwierig, im gleichen Tempo zusammenzuarbeiten.

Es könnte auch ein mangelndes Verständnis für die Rolle und die Verantwortlichkeiten der Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen geben, die von Einzelpersonen und Organisationen verwendete Sprache könnte unterschiedlich sein. Das wiederum könnte zu Problemen bei der Zusammenarbeit führen. Ein gutes Beispiel dafür sind die Unterschiede in den Definitionen und Bezeichnungen, die verwendet werden, um sich auf das Opfer zu beziehen: im Strafrechtssystem ist von „Opfer“ die Rede, Organisationen, die parteilich für Frauen arbeiten, reden häufig von „Überlebenden“, im Gesundheitssystem ist die Rede von „Patientinnen und Patienten“. In der Arbeit mit Tätern und Täterinnen wird ebenfalls der Opferbegriff im strafrechtlichen Sinne verwendet, es kann sich aber auch um „Angehörige“ und allgemein um „Klientinnen und Klienten“ handeln. Weitere Begriffe sind „Mieterinnen und Mieter“ (Wohnungsdienste), „Dienstleistungsnutzer“ (Wohlfahrtsagenturen) und „Kunden und Kundinnen“ (Sozialfürsorge für Erwachsene). Dies verdeutlicht die Komplexität der Arbeit in behördenübergreifenden Kontexten.

Verschiedene Anlaufstellen verwenden unterschiedliche Werkzeuge und Instrumente zur Bewertung und Meldung des häuslichen Gewaltrisikos, und die von verschiedenen Behörden gesammelten Daten sind nicht vergleichbar: aufgrund von Unterschieden in der Art der gesammelten Daten, der Art und Weise ihrer Erfassung, der Datenspeicherung und des Datenmangels oder der Mechanismen zur Datenübertragbarkeit.

Es kann auch Unterschiede im Verständnis dessen geben, was häusliche Gewalt und ihre Auswirkungen bei verschiedenen Organisationen ausmacht.

Eine hohe Personalfluktuation in Organisationen ist ebenfalls ein Hindernis und beeinträchtigt die Kommunikation, da es Zeit braucht, bis Menschen vertrauensvolle Beziehungen aufbauen.


Was macht eine erfolgreiche behördenübergreifende Zusammenarbeit aus?

Für eine wirksame Zusammenarbeit zwischen mehreren Einrichtungen ist es von wesentlicher Bedeutung, dass alle Partner eine gemeinsame Vision mit klar formulierten und vereinbarten Zielen und Vorgaben haben. Genauso wichtig ist es, dass die Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen in allen Organisationen die Vision, den Auftrag und die Ziele der Zusammenarbeit kennen und durchweg die Gelegenheit haben, etwaige Missverständnisse oder Fragen zu klären. Damit alle Dienste effektiv arbeiten können, ist es wichtig, die Bedürfnisse aus der Perspektive der verschiedenen Interessengruppen zu verstehen – einschließlich der Praktiker und Praktikerinnen an vorderster Front – sowie allen Kooperationspartnern und Kooperationspartnerinnen mit Respekt und auf Augenhöhe zu begegnen (trotz Machtgefälle).


Komponenten einer erfolgreichen behördenübergreifenden Zusammenarbeit

Es ist unerlässlich, einen gemeinsamen Ansatz zu verfolgen, bei dem verschiedene Behörden zusammenarbeiten, um auf intelligente und effektive Weise Dienstleistungen zu erbringen. Für die Opfer und ihre Kinder kann solch ein Ansatz vorteilhaft sein: Es gibt weniger Doppelbewertungen und die Bereitstellung von Dienstleistungen kann integriert und effizient ablaufen. Es ist sehr wichtig, dass die Rollen der verschiedenen Fachkräfte, die im behördenübergreifenden Kontext arbeiten, verstanden und klar definiert werden. Fachleute in verschiedenen Organisationen und unterschiedlichen Disziplinen bringen unterschiedliche, aber sich ergänzende Fachkenntnisse mit. Zum Beispiel werden die Fachkenntnisse, das Wissen und die Fähigkeiten des Krankenpflegepersonals in der Praxis völlig anders sein als die eines Sozialarbeiters oder einer Sozialarbeiterin. In ähnlicher Weise bringt ein Polizeibeamter oder eine Polizeibeamtin ganz andere Erfahrungen und Kenntnisse mit als ein Berater oder eine Beraterin für häusliche Gewalt.

Ein angemessener und rechtzeitiger Informationsaustausch ist sehr wichtig. Es sollte im Zuge und abseits der Anzeige- und Meldepflicht beteiligter Berufsgruppen auch klare Mechanismen und Protokolle für den weiteren Informationsaustausch zwischen den Behörden geben. Diese sollten vom Management gefördert und überwacht und durch kompatible IT-Systeme (Informationstechnologie) unterstützt werden. Ein wirksamer Informationsaustausch beruht auf offener Kommunikation und Zusammenarbeit und erleichtert die Verwendung einer gemeinsamen Sprache unter verschiedenen Fachleuten. Die Bereitstellung gemeinsamer Schulungsveranstaltungen für verschiedene Fachleute ist ebenfalls eine gute Strategie, um die Menschen an einen Ort zu bringen. Die Entwicklung einer gemeinsamen Sprache und das Verständnis des Informationsaustauschs als integraler Bestandteil der Reaktion auf häusliche Gewalt wird dadurch erleichtert.

Schließlich darf die Bedeutung von Monitoring, Evaluierung und Audit nicht unterschätzt werden, da sie dazu beitragen werden, Stärken, Schwächen, Chancen und Herausforderungen für die Zusammenarbeit zwischen den verschiedenen Einrichtungen zu ermitteln. Bereiche, in denen durch solche Aktivitäten Verbesserungen festgestellt wurden, sollten als Lern- und Verbesserungsmöglichkeiten betrachtet werden, bei denen die Ansichten der Opfer und aller anderen Beteiligten eingeholt und einbezogen werden sollten.


Prinzipien behördenübergreifender Zusammenarbeit

Um eine erfolgreiche Zusammenarbeit zu gewährleisten, können bestimmte Prinzipien entwickelt und vereinbart werden, auf die sich die verschiedenen Behörden gemeinsam einigen können. Die unten aufgeführten Punkte können Fachleuten und Organisationen dabei helfen, sich auf bestimmte Prinzipien zu einigen, die von allen zusammenarbeitenden Agenturen eingehalten werden sollten.

  • Verstehen, dass ohne wirksame Prävention und frühzeitige Intervention häusliche Gewalt oft in ihrer Schwere eskaliert, und es deshalb wichtig ist, alle Anstrengungen zu unternehmen, um erwachsene und kindliche Opfer früher zu erkennen und zu unterstützen
  • Der Sicherheit der Opfer und ihrer Kinder Vorrang geben, wenn man Interventionen in Erwägung zieht, und sofort nach Bekanntwerden des Schadensrisikos handeln
  • Daten über alle Vorfälle häuslicher Gewalt aufzeichnen, analysieren und mit der Leitung von Einrichtungen, die regelmäßig und angemessen zusammenarbeiten, austauschen
  • Bei der ersten Kontaktaufnahme mit den Diensten die informierte Zustimmung des Opfers einholen, um sicherzustellen, dass Informationen zwischen den Behörden bei Bedarf ohne unnötige Verzögerung ausgetauscht werden können
  • Vertraulichkeit und Privatsphäre respektieren, wo immer möglich; die Risiken verstehen, die mit dem Informationsaustausch im Zusammenhang mit häuslicher Gewalt verbunden sind
  • Gemeinsame Richtlinien und Verfahren entwickeln und befolgen, um den Informationsaustausch zwischen verschiedenen Organisationen zu lenken, auch bei einer gemeinsamen Vorgehensweise mit den kooperierenden Behörden im Zuge der Anzeige- und Meldepflicht beteiligter Berufsgruppen
  • Sicherstellen, dass Opfer mit Respekt und Würde behandelt werden, indem man ihnen zuhört, ihren Erfahrungen Glauben schenkt und ihnen versichert, dass sie niemals schuldig sind
  • Befähigung von Opfern häuslicher Gewalt, wo immer möglich, gut informierte Entscheidungen für sich selbst zu treffen; keine Entscheidungen ohne ihre Beteiligung für sie treffen
  • Sicherstellen, dass die Dienste auf die unterschiedlichen Bedürfnisse der Opfer und Überlebenden unter Berücksichtigung ihres Alters, ihrer Behinderung, ihres Geschlechts, ihrer Rasse oder ethnischen Zugehörigkeit, ihrer Religion oder Weltanschauung, ihrer sexuellen Orientierung eingehen; erkennen, dass solche Unterschiede nicht als Entschuldigung für die Annahme oder Ausübung häuslicher Gewalt oder anderer schädlicher Praktiken dienen dürfen
  • Anerkennen, dass Opfer und ihre Kinder am meisten gefährdet sind, wenn sie versuchen, eine missbrauchende Beziehung zu verlassen oder Hilfe zu suchen