Modul 2: Indikatoren für häusliche Gewalt

1. Anzeichen für „ungesunde“ Beziehungen
2. Auswirkungen von häuslicher Gewalt
3. Exkurs: Außenstehende als Zeug:innen von häuslicher Gewalt
4. Allgemeine Indikatoren für häusliche Gewalt bei Erwachsenen
5. Häufige Indikatoren bei Kindern

Im Blickpunkt: Schulsektor – Erkennen von Betroffenen von häuslicher Gewalt
6. Häufige Indikatoren im Schulsektor

Quellen

Einleitung
Willkommen zu Modul 2:Indikatoren für häusliche Gewalt“. In diesem Modul werden Sie mehr über die weitreichenden gesundheitlichen Folgen von häuslicher Gewalt erfahren. Anhand von verhaltens-, physischen und emotionalen Indikatoren lernen Sie, wie man Betroffene von häuslicher Gewalt identifiziert und was sogenannte „red flags“ darstellt. Darüber hinaus wird die Rolle von Personen, die häusliche Gewalt beobachten, in einem Exkurs vorgestellt.

Lernziele
+ Verstehen der vielfältigen Folgen von häuslicher Gewalt für Betroffene, Familien und dem sozialen Umfeld, einschließlich der physischen, psychologischen und sozialen Auswirkungen.
+ Erwerben von Fähigkeiten, potenzielle „Warnsignale“ anhand von Verhaltensweisen, körperlichen und emotionalen Indikatoren zu erkennen.
+ Erkennen der emotionalen und psychologischen Auswirkungen von häuslicher Gewalt, insbesondere auf Kinder, und Verstehen, wie wichtig die Schaffung eines sicheren Umfelds für alle Familienmitglieder ist.


1. Anzeichen für „ungesunde“ Beziehungen

Manche Beziehungen können sich negativ auf unser allgemeines Wohlbefinden auswirken, anstatt es zu verbessern. Einige können sogar ein toxisches Niveau erreichen. Daher ist es wichtig, Warnzeichen zu erkennen um frühzeitig handeln zu können.

Diese Warnzeichen, die oft als Warnsignale oder „red flags“ bezeichnet werden, dienen als Indikatoren für „ungesundes“ oder manipulatives Verhalten. Sie sind nicht immer auf den ersten Blick erkennbar – und das macht sie so gefährlich.

Toxizität kann in allen Formen in engen Beziehungen auftreten, z. B. zwischen Freunden, am Arbeitsplatz mit Kolleg:innen, zwischen Familienmitgliedern oder in Liebesbeziehungen.


2. Auswirkungen von häuslicher Gewalt

“Das Erleben von Gewalt oder Missbrauch durch einen Intimpartner erhöht das Risiko, eine psychische Störung zu entwickeln, um das fast Dreifache und das Risiko eine chronische körperliche Krankheit zu entwickeln, um fast das Doppelte.“

Mellar BM, Hashemi L, Selak V, Gulliver PJ, McIntosh TK, Fanslow JL (2023) (1)

Menschen sind unterschiedlich.  Die individuellen sowie kumulativen Auswirkungen jeder Gewalttat hängen von vielen komplexen Faktoren ab. Obwohl jede Person häusliche Gewalt anders erlebt, gibt es viele gemeinsame Folgen solcher Erfahrungen. Oft sind die kurz- und langfristigen physischen, emotionalen, psychologischen, finanziellen und anderen Auswirkungen von Betroffenen ähnlich.

Es ist wichtig zu wissen, wie sich häuslicher Gewalt auf die betroffenen Personen auswirken kann. So können Indikatoren eindeutiger wahrgenommen und erkannt werden.

Bitte beachten Sie, dass die folgende Auflistung von möglichen Indikatoren keinen Anspruch auf Vollständigkeit erheben; sie stellen lediglich eine Auswahl dar.


Auswirkungen von häuslicher Gewalt auf Kinder

Jedes Kind hat ein Recht darauf, ohne Gewalt groß zu werden

Convention on the rights of the child (1989)


„Kennst du das auch?“

Kinder und Jugendliche berichten von zu Hause und erzählen, wie sie dort häusliche Gewalt erleben. Hier geht’s zu den Geschichten.


Dieses Video zeigt, wie sich Traumata (z. B. häuslicher Gewalt) auf die Gehirnentwicklung und das Verhalten von Kindern (sowohl innerhalb als auch außerhalb der Familie) auswirkt.

Untertitel aktivieren: Klicken Sie während des Abspielens im Bildschirmbereich unten auf das Untertitel-Symbol (kleines Viereck mit Strichen). Der Untertitel wird direkt eingeblendet. Um die Untertitelsprache zu ändern, klicken Sie auf das Zahnrad daneben und wählen unter „Untertitel“ die gewünschte Sprache aus.
Hier gehts zu einem Erklärvideo.

“Die Art und Weise, wie man sich an Missbrauch und/oder Vernachlässigung aus der Kindheit erinnert und diese verarbeitet, hat einen größeren Einfluss auf die spätere psychische Gesundheit, als die Erfahrung selbst.”

nach Danese A., Widom CS. (2023) (2)

Das folgende Video zeigt, wie traumatische Erlebnisse in der Kindheit das spätere Leben beeinflussen und es zu Bindungsstörungen kommen kann.

„Menschen, die in ihrer Kindheit herausfordernde oder traumatische Erfahrungen gemacht haben, weisen im Alter mit größerer Wahrscheinlichkeit sowohl körperliche als auch kognitive Beeinträchtigungen auf.“ (7) In der folgenden Tabelle finden Sie weitere Beispiele für die kurz- und langfristigen Auswirkungen von häuslicher Gewalt auf ein Kind, das häusliche Gewalt erlebt oder miterlebt hat:

  • Kinder, die Gewalt erlebt und psychische Probleme haben (z. B. psychosomatische Symptome, Depressionen oder Selbstmordgedanken), haben ein höheres Risiko für Drogenmissbrauch, Schwangerschaften in der Jugend und kriminelles Verhalten. (8)
  • Durch ständiges beobachten/erfahren von Gewalt können Kinder „lernen“, dass es akzeptabel ist, Kontrolle auszuüben, Stress durch Gewalt abzubauen oder dass Gewalt mit dem Ausdruck von Intimität und Zuneigung verbunden zu sein scheint. Dies kann sich in sozialen Situationen und in Beziehungen während der gesamten Kindheit und im späteren Leben sehr negativ auf Kinder auswirken.
  • Kinder müssen möglicherweise auch mit vorübergehender Obdachlosigkeit, Orts- und Schulwechsel, dem Verlust von Freunden, Haustieren und persönlichen Gegenständen, anhaltenden Belästigungen durch den Täter/die Täterin und dem Stress neue Beziehungen einzugehen, fertig werden.


3. Exkurs: Außenstehende als Zeug:innen von häuslicher Gewalt

Bild von macrovector auf Freepik

Familienmitglieder, Nachbarn, Arbeitskolleg:innen oder Betreuende können Zeug:innen von häuslicher Gewalt werden. Wir alle müssen aufmerksam sein, wenn sich ein Mensch in unserem Umfeld verändert (z. B. zurückzieht oder von unerwünschten Nachrichten seines/ihres Ex-Partner:in erzählt). Häusliche Gewalt beginnt nicht erst, wenn der Körper von Verletzungen und blauen Flecken gezeichnet ist. Wichtig ist, niemals wegzuschauen! 

„Was würden Sie tun?“

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Hier gehts zu einem Erklärvideo.

Aufgaben zum Weiterdenken

(1) Was sind die Warnsignale, die in diesem Video gezeigt werden und die darauf hinweisen, dass es sich um eine toxische Beziehung handelt, in der häusliche Gewalt vorliegt und jemand Hilfe braucht?

(2) Was würden Sie tun?

Die Zusammenarbeit und das Einverständnis der von häuslicher Gewalt betroffenen Personen sind die wichtigsten Voraussetzungen für eine Intervention als Zeug:in. Die Intervention kann Gespräche mit den Betroffenen, Hilfe beim Zugang zu Hilfsdiensten oder z. B. die Unterstützung bei der Anzeige von Gewalttaten bei der Polizei umfassen.

Faktoren, die eine Intervention von Zeug:innen hemmen oder fördern können:

Weitere Informationen zu den entscheidenden Faktoren für die Intervention von Zeug:innen bei häuslicher Gewalt finden Sie hier (auf Englisch): https://eige.europa.eu/gender-based-violence/eiges-work-gender-based-violen


4. Allgemeine Indikatoren für häusliche Gewalt bei Erwachsenen

Es gibt eine ganze Reihe von Indikatoren, die als „Warnsignale“ dienen können und darauf hinweisen, dass eine Person von häuslicher Gewalt betroffen sein könnte. Einige von ihnen sind recht subtil. Daher ist es wichtig, dass Sie auf die möglichen Anzeichen achten und angemessen reagieren. Bitte beachten Sie, dass keines oder alle dieser Anzeichen auch auf andere Probleme hindeuten können. Manche von häuslicher Gewalt betroffene Personen machen auch Andeutungen und ihr Verhalten kann ebenfalls aufschlussreich sein. Ausführliche Informationen zur Kommunikation finden Sie in Modul 3.

Die von Gewalt betroffenen Personen sind darauf angewiesen, dass Sie zuhören, beharrlich bleiben und nach Anzeichen und Hinweisen schauen. Sie sind darauf angewiesen, dass sie Gespräche unter vier Augen weiterverfolgen, Einzelheiten zu Verhaltensweisen, Gefühlen und Verletzungen, die sie gesehen und gemeldet haben, aufzeichnen und sie im Einklang mit etablierten Vorgehensweisen ihrer Organisation unterstützen.

Personen mit unterschiedlichen kulturellen Hintergründen können ihre Symptome unterschiedlich äußern. Seien Sie sich Ihrer eigenen Perspektive, möglichen Vorurteilen und Stereotypen bewusst, wenn Sie mit einem potentiellen Betroffenen sprechen. Diese Faktoren können Ihre Einschätzung der Symptome beeinflussen. Weitere Informationen dazu in Modul 8.

Bitte beachten Sie, dass keine oder alle dieser Indikatoren vorhanden sein und auf (eine Vorgeschichte von) von häuslicher Gewalt hinweisen können. Diese Indikatoren dienen als Warnsignale und sollten für erhöhte Aufmerksamkeit sorgen.

Hier finden Sie eine Reihe möglicher Gesundheitsindikatoren, psychischer Indikatoren für Erwachsene und spezifische Indikatoren für gefährdete Gruppen für häusliche Gewalt.

Zur besseren Übersichtlichkeit sind die Indikatoren nach Farben geordnet: Gelb: Allgemeine Indikatoren; Grün: Verhaltensbezogene Indikatoren; Blau: Psychische Indikatoren.

Gesundheitliche Indikatoren
  • Chronische Beschwerden wie Kopfschmerzen; Schmerzen in Muskeln, Gelenken und Rücken
  • Schwierigkeiten beim Essen und Schlafen
  • Kardiologische Symptome ohne Anzeichen einer Herzerkrankung (Herzklopfen, arterielle Hypertonie, Myokardinfarkt ohne obstruktive Erkrankung)
Mögliche psychische Indikatoren
  • Emotionaler Stress, z. B. Angst, Unentschlossenheit, Verwirrung und Feindseligkeit
  • Selbstverletzungen oder Selbstmordversuche
  • Psychosomatische Beschwerden
  • Schlaf- und Essstörungen (z. B. Anorexie, Bulimie, Binge Eating)
  • (vorgeburtliche) Depressionen
  • Soziale Isolation/kein Zugang zu Verkehrsmitteln oder Geld
  • Unterwürfiges Verhalten/geringes Selbstwertgefühl
  • Angst vor Körperkontakt
  • Substanzmissbrauch
Mögliche verhaltensbezogene Indikatoren
  • Häufige Inanspruchnahme von medizinischen Behandlungen in verschiedenen Einrichtungen
  • Häufiger Wechsel von Ärzt:innen
  • Unverhältnismäßig lange Zeitspanne zwischen dem Auftreten der Verletzung und der Behandlung
  • Zögerliche Reaktion auf die Frage nach der Krankengeschichte
  • Leugnen, widersprüchliche Erklärungen über die Ursache der Verletzung
  • Überfürsorgliches Verhalten der Begleitperson, kontrollierendes Verhalten
  • Häufiges Fernbleiben von der Arbeit oder vom Studium
  • Ausweichendes oder schamhaftes Verhalten bei Verletzungen
  • Ängstliches Verhalten in Gegenwart des Partners bzw. der Partnerin oder von Familienmitgliedern
  • Nervöse Reaktionen auf Körperkontakt/schnelle und unerwartete Bewegungen
  • Schreckhaftes Verhalten
  • Extreme Abwehrreaktionen oder eine starke emotionale Reaktion auf bestimmte Fragen

Mögliche Indikatoren, die sich speziell auf die gefährdete Gruppe von älteren Menschen beziehen:

Mögliche Indikatoren für häusliche Gewalt gegen ältere Menschen
  • Mangel an grundlegender Hygiene
  • Nasse Windeln
  • Fehlende medizinische Hilfsmittel wie Gehhilfen, Zahnersatz
  • Dekubitus, Druckgeschwüre
  • Die Pflegeperson spricht über den älteren Menschen als wäre er/sie eine Last

Einige Personen fürchten möglicherweise, dass das Ansprechen von Suizid bei gefährdeten Personen einen Auslöser darstellen könnte. Häufig kann jedoch das offene Gespräch Ängste verringern und das Verständnis fördern. Wenn eine Person Selbstmordgedanken oder -pläne hat oder sich kürzlich selbstverletzt hat und sich in einer akuten Notlage oder Unruhe befindet, ist es wichtig, sie nicht allein zu lassen. Suchen Sie sofort Hilfe bei einem Spezialisten/einer Spezialistin oder einer medizinischen Notfalleinrichtung.


5. Häufige Indikatoren bei Kindern

„Ein häufiger Wechsel von Kinderärzten und Kinderärztinnen ist ein möglicher Indikator für häusliche Gewalt und kann dazu führen, dass gefährdete und betroffene Kinder und Jugendliche zu spät erkannt werden.“

www.aerzteblatt.de, 13.June 2021 (1)

Hier finden Sie eine Reihe von möglichen Indikatoren von häuslicher Gewalt bei Kindern. (2) Die Aufzählungen sind nicht vollständig, sie stellen lediglich eine Auswahl dar.

Mögliche Indikatoren von häuslicher Gewalt
  • Langsame Gewichtszunahme (bei Säuglingen)
  • Auffällige Untersuchungsergebnisse oder andere Hinweise auf Vernachlässigung
  • Fehlende oder unzureichende medizinische Versorgung bei Krankheiten
  • Schlechter Pflegezustand des Kindes
  • Schlechter Ernährungszustand des Kindes oder extreme Fettleibigkeit
  • Unangemessene Kleidung, z. B. Tragen von langer Kleidung bei heißem Wetter
  • Schwierigkeiten beim Essen und Schlafen
  • Körperliche Beschwerden
  • Essstörungen (einschließlich Probleme beim Stillen)
Mögliche psychische Indikatoren
  • Aggressives Verhalten und aggressive Sprache, ständige Kämpfe mit Gleichaltrigen
  • Passivität, Unterwürfigkeit
  • Nervöses und zurückgezogenes Auftreten
  • Schwierigkeiten bei der Anpassung an Veränderungen
  • Regressives Verhalten bei Kleinkindern
  • Störungen der Sprachentwicklung
  • Psychosomatische Erkrankungen
  • Unruhe und Konzentrationsschwierigkeiten
  • Abhängiges, trauriges oder verschlossenes Verhalten
  • Bettnässen
  • „Ausagieren“, zum Beispiel Tierquälerei (3)
  • Auffällige Verschlechterung der schulischen Leistungen
  • Ungeklärtes Fernbleiben von der Schule
  • Überängstlich oder Angst Mutter oder Vater zu verlassen
  • Stehlen und soziale Isolation
  • Sexuell missbräuchliches Verhalten
  • Gefühle der Wertlosigkeit
  • Fehlen von persönlichen Grenzen, Distanzlosigkeit
  • Depressionen, Angstzustände und/oder Selbstmordversuche
Mögliche Verletzungen
  • Die beschriebene Vorgeschichte stimmt nicht mit den Verletzungen überein
  • Ungewöhnliche Verletzungen wie zum Beispiel:
    • Häufige Frakturen
    • Sehr ausgeprägte schwere Verletzungen jeglicher Art
    • Ungewöhnliches Aussehen (z. B. gemusterte Verletzungen, wie Bisswunden)
    • Ungewöhnliche („geschützte“) Lokalisierung von Verletzungen (einschließlich Lippen, Zähne, Mundhöhle, Augenlider, Ohrläppchen, Gesäß, Genitalien, Fingerspitzen usw.)
    • Unbehandelte (alte) Verletzungen
    • Ungeklärte Verletzungen bei sehr kleinen Kindern, die sich noch nicht von selbst bewegen können
    • Verletzungen, die für das Alter des Kindes „untypisch“ sind; gesunde Kinder haben keine blauen Flecken. Selbst kleine, medizinisch nicht relevante blaue Flecken deuten auf einen unsachgemäßen Umgang mit dem Kind hin
  • Verletzungen durch erzwungenes oder unvorsichtiges Füttern:
    • Quetschungen (Gewebsquetschungen) der Lippen oder des Zahnfleisches (durch extreme Fütterung)
    • Verbrennungen, weil die Nahrung zu heiß war
    • Zwangsfütterung mit der Flasche: obere Schneidezähne sind lingual eingedrückt, das Zahnfleisch zeigt einen runden Riss vom Plastikring am Gummisauger

Vorsicht! Bei schweren inneren Verletzungen (z. B. Knochenbrüchen) können äußere Verletzungen fehlen! Das Schütteln eines Säuglings kann lebensbedrohlich sei und ist äußerlich nicht sichtbar.

Mögliche Indikatoren in Bezug auf das Verhalten von Betreuungspersonen oder das der Eltern (1)
  • Psychische Auffälligkeiten/Erkrankungen bei den Eltern/Mutter/Vater
  • Anzeichen für elterliche Probleme (z. B. Aggression, Gewaltpotenzial, Kriminalität, mangelnde Bildung, Ehekonflikte)
  • Familien, die psychosozialen Stressfaktoren ausgesetzt sind (z. B. Armut, Arbeitslosigkeit, frühe und/oder alleinerziehende Eltern, sprachliche Isolation, Mehrlingsgeburten, Entwicklungsverzögerungen des Kindes)
  • Drogenkonsum (unabhängig von der Substanz) und andere Suchterkrankungen der Eltern (z. B. Spiel-, Sexual- und Kaufsucht)
  • Unfähigkeit der Eltern, Signale des Kindes richtig zu deuten und darauf zu reagieren; Unfähigkeit, die Bedürfnisse des Neugeborenen/Kindes zu befriedigen; mangelnde Bindung an das Neugeborene/Kind
  • Mangelnde Kooperation/Therapieadhärenz seitens der Eltern, z. B.:
    • Nichteinhaltung von Empfehlungen der Ärzt:innen, unzureichende Pflege chronisch kranker Kinder durch die Eltern
    • Nichtverabreichung von (regelmäßigen) Medikamenten an das Kind, Versäumnis von Kontrollterminen für das Kind
    • Nichteinhaltung von (Nachsorge-)Terminen nach Krankheit/Verletzung, häufiges unentschuldigtes Fernbleiben von Behandlungsterminen; auffallend häufige Absagen von Behandlungsterminen

Verteilung der Hämatome bei gesunden Kindern unter 6 Jahren

Hotspots für körperliche Misshandlung bei Kindern unter 6 Jahren

Quelle: Deutsche Gesellschaft für Kinderschutz in der Medizin (Kitteltaschen https://dgkim.de/?page_id=243)


Lokalisation von Hämatomen bei Kindern mit körperlicher Behinderung ab 4 Jahre:

Hier finden Sie weitere Informationen zu (unfallbedingten) Hämatomen bei Kindern mit körperlichen Einschränkungen.

Bei Kindern mit Behinderungen gibt es signifikante Unterschiede ab 4 Jahren: https://www.aekno.de/fileadmin/user_upload/aekno/downloads/2023/Kindernotfallkoffer.pdf, ab Seite 10.


Warnsignale (“red flags“), die Sie alarmieren sollten:(4)
• Auffällige Hämatome sind bei Säuglingen, die sich nicht von selbst bewegen können, verdächtig.
• Bei jedem Kind ist ein Hämatom im Genitalbereich verdächtig.
• Bei jedem Kind sind das gleichzeitige Vorhandenseins von Hämatomen im Bereich des Ohrs, des Halses, des Nackens, der Waden und der gesamten Vorderseite des Brustkorbs und des Bauches verdächtig, wenn keine entsprechende Krankengeschichte vorliegt.
• Ein Hämatom im Bereich des Gesäßes ist bei einem Kind sehr selten.

Misshandelte Kinder haben in der Regel drei oder mehr Hämatome in verschiedenen Regionen.

Vor jedem Handeln sollte eine eigene fachliche Beratung stehen. Wie diese im konkreten Fall erfolgt, hängt von den Umständen ab.

Als Beispiel für ein strukturiertes Vorgehen gilt:

Handlungsoptionen im akuten/dringlichen Fall (sexueller Missbrauch)

„Sollten Sie den Verdacht auf eine akute Kindeswohlgefährdung haben (z. B. weil das Kind über Gewalt berichtet), die keiner akuten Krankenhauseinweisung bedarf, kontaktieren Sie bitte unmittelbar das Jugendamt. Ansprechpartner:innen können Sie bei der jeweiligen Stadtverwaltung erfragen. Es empfiehlt sich, dies im Vorfeld zu klären.“ (5)

Besteht Verdacht auf einen akuten sexuellen Missbrauch, sollte eine körperliche Untersuchung und Spurensicherung in der Klinik (Kinderschutzgruppe/Kinderschutzambulanz) erfolgen. Im  Folgenden finden Sie ein Ablauf möglicher Untersuchungen:

Handlungsoptionen bei weniger zeitkritischen Fällen

„Wenn die Situation als nicht dringlich eingeschätzt wird, lassen Sie sich zunächst beraten. Dies gilt immer, bei dem so genannten „schlechten Bauchgefühl“, um die Gründe dieses Gefühls zu eruieren und daraus weitere Handlungsoptionen abzuleiten.“ (6)

Handlungsoptionen bei unklaren Fällen

„Hier gilt, diese Kinder „im Auge“ zu behalten, z. B. durch geeignete Markierungen in der Patientendokumentation, Vereinbarung von Kontrollterminen etc. (cave: die Nicht-Einhaltung muss Konsequenzen haben), RISKID-Ärzt:innen: Patient:innen evtl. zusätzlich in RISKID eingeben.

Eine Beratung kann auch in diesen Fällen jederzeit erfolgen und kann zur Festlegung des weiteren Vorgehens ebenfalls hilfreich sein.“ (6)

Für den Fall, dass eine Gefährdungsmeldung beim Jugendamt notwendig wird, finden Sie hier ein Formular für die Meldung:

https://www.kkg-nrw.de/fileadmin/pdf/Formular_A4_Kindeswohlgef_an_Jugendamt_WEB.pdf

Fallstudie: Kinder in Haushalten mit häuslicher Gewalt sind stark gefährdet

In diesem Fall geht es um Daniel, einen vierjährigen Jungen und seine Mutter, Frau Luscak, 27 Jahre alt. Sie ist alkoholabhängig und war gegenüber ihren früheren Partnern gelegentlich gewalttätig. Sie spricht kaum Deutsch. Daniel hat zwei Geschwister, eine siebenjährige Schwester Anna vom ersten Partner der Mutter und einen einjährigen Bruder Adam vom derzeitigen Partner der Mutter, Herrn A. Die Polizei wurde bereits 27-mal auf Grund von Vorfällen von häuslicher Gewalt gerufen, die oft dadurch eskalierten, dass beide Elternteile betrunken waren. Bei zwei Gelegenheiten nahm Daniels Mutter eine Schlafmittelüberdosis in der Absicht Selbstmord zu begehen. Die Familie zog mehrmals um, weil sie die Miete nicht mehr bezahlen konnte. Als sie mit Adam schwanger war, drängte Herr A. Frau Luscak zu einem Schwangerschaftsabbruch. Sie versäumte vier Schwangerschaftsvorsorgeuntersuchungen. Einmal wurde sie auf Grund von Verletzungen ins Krankenhaus eingeliefert, wo Herr A. die Infusion entfernte und sie sich selbst auf eigene Gefahr entließ.

Als Daniel in der Notaufnahme vorstellig wurde, hatte er eine Spiralfraktur am linken Arm, die er sich bei einem Sprung vom Sofa mit seiner Schwester am Vortag zugezogen haben sollte. Prellungen an der Schulter und am Unterbauch wurden laut seiner Mutter damit erklärt, dass er regelmäßig vom Fahrrad fiel. Es fanden zwar Treffen mit Fachkräften des Gesundheitswesens statt, aber die lange Vorgeschichte häuslicher Gewalt wurde nicht berücksichtigt. Als Daniel eingeschult wurde, fehlte er, wie seine Schwester Anna, häufig. Die Lehrer:innen machten sich Sorgen, weil Daniel immer dünner wurde und immer hungrig zu sein schien und sich das Essen anderer Kinder nahm. Daniel hatte schlechte Deutschkenntnisse. Er war ein sehr unauffälliger, schüchterner und zurückhaltender Junge und sprach nicht mit den Lehrer:innen.

Aufgaben zum Weiterdenken

(1) Denken Sie über die zahlreichen Indikatoren und Warnsignale (“red flags“) in Daniels Fall nach. Was waren die Frühindikatoren für möglichen Missbrauch und wie hätten sie früher erkannt werden können?

(2) Welche Möglichkeiten des Eingreifens und der Unterstützung durch medizinisches Fachpersonal wurden verpasst? Wie hätte man es besser machen können?

Fall adaptiert nach The Medical Women’s International Association’s Interactive Violence Manual


Im Blickpunkt: Schulsektor – Erkennen von Betroffenen von häuslicher Gewalt

6. Häufige Indikatoren im Schulsektor

  • Äußerungen, sichtbare Verletzungen, Verhaltensauffälligkeiten oder Verhaltensänderungen eines Kindes oder Jugendlichen könnten ein Hinweis darauf sein, dass Gewalt in einer Familie vorhanden ist.
  • Erzieher:innen, Schulsozialarbeiter:innen sowie Lehrer:innen sollten darauf sensibilisiert sein.
  • Das oberste Ziel sollte in jedem Fall die Beendigung der Gewalt gegenüber einem Kind oder Jugendlichen oder einem bzw. einer Erziehungsberechtigten sein.
  • In den meisten Fällen häuslicher Gewalt ist die beste Hilfe für das Kind oder den Jugendlichen, wenn die Erziehungsberechtigten selbst eine Veränderung der Situation anstreben. Sie dazu zu ermutigen und ihnen einen Zugang zur Hilfe zu ermöglichen, ist eine wichtige Aufgabe im Schulsektor.
Mögliche Handlungsschritte für den Umgang mit vermuteter häuslicher Gewalt
  • Beobachtung von Verhaltensauffälligkeiten eines Kindes oder Jugendlichen
  • Dokumentation
  • Reflexion der Beobachtung
  • Vermutungen über mögliche Ursachen für das Verhalten des Kindes oder des Jugendlichen (Hypothesen bilden)
  • Einbindung eines/einer Kolleg:in
  • Teambesprechung (kollegiale Beratung)
  • Einbindung der Leitung
  • Entscheidung über die weitere Vorgehensweise und Absprache weiterer Handlungsschritte

Der letzte Schritt „Entscheidung über die weitere Vorgehensweise und Absprache weiterer Handlungsschritte“ muss je nach Fall individuell gestaltet werden. Eine Möglichkeit wäre das Gespräch mit der Mutter oder/und dem Vater des verhaltensauffälligen Kindes oder Jugendlichen. Dabei sollte an erster Stelle die beobachtete und dokumentierte Verhaltensauffälligkeit des Kindes oder Jugendlichen thematisiert werden. Wenn im Gespräch deutlich wird, dass die Mutter oder der Vater von häuslicher Gewalt betroffen sein könnten, ist es wichtig, mit ihr oder ihm ein weiteres Gespräch unter vier Augen zu führen. Dabei sollte stets Vertraulichkeit zugesichert und auf Hilfemöglichkeiten hingewiesen werden, zum Beispiel auf Beratungsstellen, anonyme telefonische Beratung, etc.

Die Zusammenarbeit mit der Mutter und dem Vater als Erziehungspartner:innen sollte sehr sensibel angelegt sein und damit langfristig gesichert werden. Sind Mütter und/oder Väter nicht bereit, die Probleme zu bearbeiten und Hilfsangebote zu nutzen, dann ist eine Zusammenarbeit mit anderen Institutionen ohne das Einverständnis der Eltern nur möglich, wenn das Kindeswohl gefährdet zu sein scheint. Sonst muss die Schule den Datenschutz gewährleisten. Es besteht jedoch die Möglichkeit, sich telefonisch oder persönlich von unterschiedlichen Hilfsorganisationen beraten zu lassen, ohne die Daten der betroffenen Familie preiszugeben. Sollte das Kindeswohl gefährdet sein, muss das Jugendamt informiert werden; Kindeswohl geht vor Datenschutz. Auch für die Abklärung einer möglichen Gefährdung des Kindeswohls kann das Jugendamt erst einmal unter Wahrung der Anonymität der betroffenen Familie befragt werden, um dann über weitere Schritte entscheiden zu können, z. B. das Jugendamt offiziell einzuschalten.


Nichts überstürzen

Eigene Empfindungen, Unsicherheiten und Ängste können im Gespräch mit Kolleg:innen, bei Beratungsstellen oder dem bezirklichen Jugendamt thematisiert werden. Gehen Sie dabei behutsam und vorsichtig mit Ihrem Verdacht um, damit unkontrolliertes Agieren anderer Personen vermieden wird. Alles, was Sie tun, muss sich am Wohl des Kindes oder Jugendlichen orientieren.

Verdacht abklären

Auffälliges Verhalten kann sehr unterschiedliche Gründe haben: Ein Kind oder Jugendlicher kann sich in einer schwierigen Lebenssituation befinden. Vielleicht lassen sich die Eltern gerade scheiden, oder wichtige Bezugspersonen wie Großeltern sind gestorben. Eine mögliche Ursache für auffälliges Verhalten können jedoch auch das Miterleben von häuslicher Gewalt oder Opfersein von häuslicher Gewalt darstellen. Man sollte sich daher immer fragen, worauf sich der Verdacht auf häusliche Gewalt gründet und ob Misshandlung, Vernachlässigung, sexueller Missbrauch oder häusliche Gewalt die einzige Erklärung für die Auffälligkeit des Kindes oder Jugendlichen sind oder ob nicht auch andere Ursachen in Betracht kommen können.

Beispiel: physische Gewalt

Alice hat eigentlich immer irgendwelche Verletzungen – meistens blaue Flecken. Das ist auch schon den anderen Kindern aufgefallen. Wer das fünfjährige Mädchen darauf anspricht, bekommt immer neue Erklärungen und Geschichten, die alle eines gemeinsam haben: Immer ist sie es anscheinend selbst gewesen, die sich in ihrer Ungeschicklichkeit die Verletzungen zugezogen haben will. Mal sei sie die Treppe herunter-, mal vom Fahrrad gefallen.

Doch wer Alice kennt, weiß, dass sie alles andere als ungeschickt ist. Auch die Erzieherin wird misstrauisch, denn die Erklärungen wollen nicht so recht zu den Verletzungen passen. Dann erzählen die anderen Kinder, dass Alices Eltern sehr streng sind. Schon wegen Kleinigkeiten wie Zuspätkommen bestrafen sie ihre Tochter. Verabredungen darf sie keine treffen.

Als Alice eines Tages nicht zur Tageseinrichtung kommt, wagt die Erzieherin einen Hausbesuch. Die Eltern verweigern ihr den Zutritt zur Wohnung und sagen, das Kind sei nicht da. Daraufhin ruft sie die Polizei, die Alice findet: eingesperrt in ihrem Kinderzimmer, übersät mit blauen Flecken und Striemen, den Mund mit Paketband zugeklebt. Als die Polizisten fragen, wie die massive Kopfverletzung zustande gekommen sei, erklären die Eltern, dass ihre Tochter aus Wut mit dem Kopf gegen den Schrank gelaufen sei.

Quelle: Handreichung zur Förderung des Erkennens von Kindesmisshandlung und des adäquaten Umgangs mit Verdachtsfällen

Beispiel: psychische Gewalt

Für seine elf Jahre ist Tom ziemlich dick. Zu den Mitschülern hat er immer weniger Kontakt und nimmt auch nicht mehr an gemeinsamen Aktivitäten teil. Dabei sind es nicht die anderen, die ihn hänseln, sondern Tom, der sich immer mehr zurückzieht. Er ist erschreckend passiv.

Auch am Unterricht beteiligt er sich immer weniger und wirkt irgendwie unsicher und ängstlich. Als seine Versetzung gefährdet ist, werden die Eltern zu einem Gespräch in die Schule eingeladen. Zu dem Termin erscheint nur die Mutter.

Beim Gespräch mit dem Lehrer wird schnell deutlich, dass sie eine sehr distanzierte Haltung zu ihrem Sohn hat. Sie bezeichnet ihn abfällig als dumm und hässlich. Im Hinblick auf seine Versetzung meint sie gleichgültig: „Wenn er sich nicht ändert, muss er halt auch die Konsequenzen tragen.“

Nach dem Gespräch mit dem Lehrer begegnet Tom seiner Mutter und der Lehrerin, als er gerade mit seiner Klasse das Klassenzimmer verlässt. Seine Mutter spricht ihn vor dem Lehrer und seinen Mitschülern an: „Du bist ja zu nichts zu gebrauchen, wegen Dir habe ich nur Ärger.“

Quelle: Handreichung zur Förderung des Erkennens von Kindesmisshandlung und des adäquaten Umgangs mit Verdachtsfällen

Beispiel: Vernachlässigung

Schon wieder zu spät! Leo schleicht ins Klassenzimmer und hofft, dass die Lehrerin nicht bemerkt, dass er es schon wieder nicht geschafft hat, pünktlich zu kommen. Es ist nicht das erste Mal, dass der Zwölfjährige verspätet in die Schule kommt und während der ersten Unterrichtsstunde auch noch öfters einnickt. Bücher und Hefte: Fehlanzeige! Meistens hat er auch kein Pausenbrot dabei. Aus den Hosen ist er längst rausgewachsen, die Pullis sind abgetragen, und keiner will neben ihm sitzen. „Du stinkst!“, sagen die anderen.

Die Lehrerin sorgt sich um den Jungen, der irgendwie verwahrlost wirkt, doch die Mutter reagiert nicht auf ihre Briefe, die Elternabende ignoriert sie. Fragt die Lehrerin aber Leo selbst, so hat er immer schlüssige Erklärungen parat, warum die Mutter nicht kommen kann.

Als Leos kleine Schwester, die die gleiche Schule besucht, an einer Klassenfahrt teilnehmen soll, die Überweisung dafür aber nicht erfolgt, wird ein Termin mit der Mutter, der Lehrerin und dem Jugendamt in der Schule anberaumt. Die Mutter kommt nicht, woraufhin Leo nach deren Verbleib gefragt wird. Da bricht der Junge weinend zusammen und berichtet, dass die Mutter schon seit einem Dreivierteljahr bei ihrem Freund wohne und nur ab und zu in der Wohnung erscheine, um fünf Euro für Lebensmittel zu hinterlassen. In dem gesamten Zeitraum hat Leo die Verantwortung für den gesamten Haushalt, die total verwahrloste Wohnung und die drei kleineren Geschwister tragen müssen.

Quelle: Handreichung zur Förderung des Erkennens von Kindesmisshandlung und des adäquaten Umgangs mit Verdachtsfällen

Kenntnisse erweitern

Informieren Sie sich durch Fortbildungen zu diesem Thema, um eigene Unsicherheiten und Ängste abzubauen.

Fort- und Weiterbildungsangebote im Bereich häuslicher Gewalt im sozialen Sektor finden Sie hier.


Fallstudie: Häusliche Gewalt schadet auch Kindern

Gabby heiratete nach einer langen Beziehung ihren Ehemann Nick und zog kurz darauf auf den Bauernhof ihres Mannes um. Das Paar war auf dem Bauernhof glücklich und bekam bald sein erstes Kind. Während der Schwangerschaft begann sich Nicks Verhalten zu ändern, und als die Tochter der beiden geboren wurde, „fühlte“ sich die Beziehung nicht mehr an wie zuvor. Nick wirkte zurückgezogen und verbrachte viel Zeit allein. Er begann, Gabby an Nicks Vater zu erinnern, der Nick gegenüber immer sehr streng gewesen war.

Nicks Verhalten wurde bedrohlich und kontrollierend, insbesondere in Bezug auf Geld und soziale Kontakte. Er wurde bei Auseinandersetzungen zunehmend aggressiv, schrie oft und warf Gegenstände durch den Raum. Gabby dachte, da er sie nicht körperlich verletze, stelle sein Verhalten keinen Missbrauch dar. Nick zeigte kein großes Interesse an der Tochter Jane – außer in der Öffentlichkeit, wo er ein vernarrter und liebevoller Vater zu sein schien.

Jane war im Allgemeinen ein wohlerzogenes Kind, aber Gabby stellte fest, dass sie sie nicht bei jemand anderem lassen konnte. Jane weinte und verzweifelte sichtlich, wenn Gabby sie jemand anderem übergab. Das war für Gabby belastend und bedeutete auch, dass ihre sozialen Aktivitäten weiter eingeschränkt wurden.

Jane brauchte lange Zeit, um zu krabbeln, zu gehen und zu sprechen. Ihr Schlafmuster war unregelmäßig, und Gabby schlief nachts oft nicht durch, selbst als Jane über 12 Monate alt war. Als Jane zu sprechen begann, entwickelte sie ein Stottern, das ihre Sprachentwicklung weiter behinderte. Gabby machte sich große Sorgen um Jane. Ihr Hausarzt sagte ihr, dass das vorkommen könne und normal sei und dass sie, wenn die Sprachprobleme fortbestünden, Jane jederzeit zu einem späteren Zeitpunkt zu einem Spezialisten schicken könne.

Nach einigen Jahren wurde Nicks Verhalten für Gabby inakzeptabel. Während der Auseinandersetzungen nahm er nun oft das Gewehr, das er für die Jagd gekauft hatte, in die Hand. Gabby empfand dies als sehr bedrohlich. Bei einer Reihe von Gelegenheiten wurde Gabby von Gegenständen, die Nick warf, getroffen, und sie hatte zunehmend Angst um ihre Tochter. Gabby beschloss, das Haus zu verlassen, und wandte sich an die örtliche Frauenberatungsstelle, die ihr half, ein Annäherungsverbot gegen Nick zu erwirken.

Nachdem Jane keinen Kontakt mehr zu Nick hatte, änderte sich ihr Verhalten. Janes Entwicklung schien sich zu beschleunigen, und Gabby konnte zuerst nicht verstehen warum. Im Rahmen ihrer Beratung bei einer örtlichen Beratungsstelle erörterte sie dieses Thema, und ihre Beraterin erklärte ihr, dass die Entwicklungsverzögerung, das Stottern, die Irritation und die Trennungsangst bei Jane daher gerührt hätten, dass sie in einer missbräuchlichen Situation gelebt habe.

Aufgaben zur weiteren Reflektion

(1) Welche Formen von häuslicher Gewalt liegen vor?
(2) Welche Indikatoren für häusliche Gewalt sind im Fallbeispiel zu erkennen?
(3) Wie schätzen Sie das Risiko für Gabby und ihre Tochter ein?

Zum breiten Spektrum von Fachleuten, Diensten und Fachstellen, die möglicherweise an der Unterstützung von Opfern häuslicher Gewalt beteiligt sind, gehören – ohne darauf beschränkt zu sein – Dienste der primären und sekundären Gesundheitsfürsorge, der psychischen Gesundheitsfürsorge, der Dienste für sexuelle Gewalt, der Sozialfürsorge, der Strafverfolgungsbehörden, der Polizei, der Bewährungshilfe, der Jugendgerichtsbarkeit, des Substanzmissbrauchs, spezialisierter Agenturen für häusliche Gewalt, Kinderdienste, Wohnungsdienste und Bildung. Die untere Flowchart illustriert die Zusammenarbeit all dieser Dienste im Kontext häuslicher Gewalt.



Adaptiert nach einer Fallstudie aus RACGP (2014): Abuse and Violence: Working with our patients in general practice


Ein Interview mit einer Fachberaterin des Sozialdienstes katholischer Frauen e.V. Münster

Wie kommen Sie mit Betroffenen häuslicher Gewalt in Kontakt?

Hilfsbedürftige Frauen werden über das Internet, Freunde und Freundinnen und Bekannte, die Polizei, Beratungsstellen oder Ärzte und Ärztinnen auf die Angebote unseres Sozialdienstes aufmerksam.

Sind Sie darauf geschult, bestimmte Indikatoren zu erkennen, um häusliche Gewalt zu identifizieren?

Die Frauen, die sich bei uns melden, sind von häuslicher Gewalt betroffen oder bedroht: Das Identifizieren von Indikatoren spielt deshalb eine untergeordnete Rolle in unserem Sozialdienst. Die Frauen erzählen meistens von selbst von ihren Erfahrungen und schildern das Durchlebte. Aus diesem Grund legen wir einen hohen Wert auf Gesprächstechniken. Alle Mitarbeitenden der Fachberatungsstelle sind geschult und haben zudem eine Ausbildung als Sozialpädagoge bzw. Sozialpädagogin oder als Erzieher bzw. Erzieherin. Häusliche Gewalt zieht sich durch alle Gesellschaftsschichten und hat wenig mit der Herkunft, Kultur, Religion oder finanziellen Situation von Opfern und Tätern bzw. Täterinnen zu tun. Es ist nicht von der Hand zu weisen, dass Männer häufiger die Täter sind. Auch ziehen Menschen mit instabilen Persönlichkeiten Gewalt oft stärker an. Außerdem sollte der familiäre Zusammenhang beachtet werden: wer einmal häusliche Gewalt erlebt hat, ist eher gefährdet, auch selbst zum Täter bzw. zur Täterin zu werden.

Was sind Ihre Ziele?

Unser Ziel ist es, strukturelle Gewalt in der Gesellschaft und Kirche aufzudecken. Dies gelingt uns, indem wir durch unsere Mitarbeit in Arbeitskreisen, Aktionen zum internationalen Tag der Gewalt gegen Frauen, dem 20-jährigen Jubiläum zum Gewaltschutzgesetz im nächsten Jahr oder auch zu themenspezifischen Aktionswochen oder Ständen in der Stadt auf das Thema häusliche Gewalt aufmerksam machen. Häufig verteilen wir Plakate und Flyer im Rahmen verschiedener Kampagnen in der Stadt. Wichtig ist jedoch, dass der Ort, an dem das Plakat aufgehängt wird, mit viel Bedacht gewählt wird. Supermärkte oder Frauenärzte bzw. Frauenärztinnen bieten sich besonders an, da diese häufig die einzigen Orte sind, die bedrohte Opfer noch allein besuchen dürfen. Die Flyer und Plakate sollten außerdem in verschiedenen Sprachen vorliegen und die Sprache sollte einfach gehalten sein. Das Beratungsangebot sollte insgesamt möglichst niederschwellig gehalten werden, aber ein breites Angebot für die Frauen enthalten.

Quelle: Sozialdienst katholischer Frauen e.V. Münster

Quellen

1. Anzeichen für „ungesunde“ Beziehungen
2. Auswirkungen von häuslicher Gewalt

(1) Mellar, B. M., Hashemi, L., Selak, V., Gulliver, P. J., McIntosh, T. K. D., & Fanslow, J. L. (2023). Association Between Women’s Exposure to Intimate Partner Violence and Self-reported Health Outcomes in New Zealand. JAMA network open, 6(3), e231311.

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(2) Danese A, Widom CS (2023). Associations Between Objective and Subjective Experiences of Childhood Maltreatment and the Course of Emotional Disorders in Adulthood. JAMA Psychiatry. Published online July 05, doi:10.1001/jamapsychiatry.2023.2140

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https://www.counseling.org/docs/disaster-and-trauma_sexual-abuse/domestic-violence-and-children.pdf?sfvrsn=2

(7) Lee, V.M., Hargrave, A.S., Lisha, N.E. et al (2023). Adverse Childhood Experiences and Aging-Associated Functional Impairment in a National Sample of Older Community-Dwelling Adults. J GEN INTERN MED

https://doi.org/10.1007/s11606-023-08252-x

(8) Felitti V.J. et al (1998), ‘The Relationship of Adult Health Status to Childhood Abuse and Household Dysfunction’, American Journal of Preventive Medicine, Vol. 14, pp. 245-258

James, M. (2001), ‘Domestic Violence as a Form of Child Abuse: Identification and Prevention’, Issues in Child Abuse Prevention, 1994; Herrera, V. and McCloskey, L. ‘Gender Differentials in the Risk for Delinquency among Youth Exposed to Family Violence’, Child Abuse and Neglect, Vol. 25, no.8, pp. 1037-1051

Anda, R.F., Felitti, V.J. et al. (2001)‘Abused Boys, Battered Mothers, and Male Involvement in Teen Pregnancy’, Pediatrics, Vol. 107, no. 2, pp.19-27.

4. Allgemeine Indikatoren für häusliche Gewalt bei Erwachsenen

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Hegarty (2011): Intimate partner violence – Identification and response in general practice, Aust Fam Physician. 2011 Nov;40(11):852-6.

Ali, McGarry (2019): Domestic Violence in Health Contexts: A Guide for Healthcare Professions, DOI:10.1007/978-3-030-29361-1

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RACGP (2014): Abuse and Violence: Working with our patients in general practice: https://www.racgp.org.au/clinical-resources/clinical-guidelines/key-racgp-guidelines/view-all-racgp-guidelines/white-book

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Women’s Legal Service NSW (2019): When she talks to you about the violence – A toolkit for GPs in NSW: https://www.wlsnsw.org.au/wp-content/uploads/GP-toolkit-updated-Oct2019.pdf

Western Australian Family and Domestic Violence Common Risk Assessment and Risk Management Framework (2023), Factsheet: https://www.wa.gov.au/system/files/2021-10/CRARMF-Fact-Sheet-2-Indicators-of-FDV.pdf

5. Häufige Indikatoren bei Kindern

(1) https://www.aerzteblatt.de/nachrichten/124955/Bei-Missbrauchsverdacht-Koalition-in-NRW-will-Schweigepflicht-lockern, accessed 10. October 2023

(2) Hegarty (2011): Intimate partner violence – Identification and response in general practice. Aust Fam Physician . 2011 Nov;40(11):852-6.

(3) Mota-Rojas D, Monsalve S, Lezama-García K, Mora-Medina P, Domínguez-Oliva A, Ramírez-Necoechea R, Garcia RdCM (2022). Animal Abuse as an Indicator of Domestic Violence: One Health, One Welfare Approach. Animals. 12(8):977. https://doi.org/10.3390/ani12080977

(4) Institut für Qualität im Gesundheitswesen Nordrhein „Notfall- und Informationskoffer: Kinderschutz in der Arztpraxis und Notaufnahme“

https://www.aekno.de/fileadmin/user_upload/aekno/downloads/2023/Kindernotfallkoffer.pdf

(5) Deutsche Gesellschaft für Kinderschutz in der Medizin, Seite 13

https://www.aekno.de/fileadmin/user_upload/aekno/downloads/2023/Kindernotfallkoffer.pdf

6. Häufige Indikatoren im Schulsektor

Böhm, Christian (2013/2014): Kooperation von Jugendhilfe und Schule im Bereich Kinder- und Jugendschutz. In: IzKK-Nachrichten (1), S. 20–25.

Buchholz, Thomas (2011): Kinderschutz bei Kindeswohlgefährdung als Aufgabe von Schule und Jugendhilfe. In: Jörg Fischer, Thomas Buchholz und Roland Merten (Hg.): Kinderschutz in gemeinsamer Verantwortung von Jugendhilfe und Schule. 1. Aufl. Wiesbaden: VS Verlag, S. 93–116.

Buschhorn, Claudia; Rüsch, Detlef (2018): Kindeswohlgefährdung und Kinderschutz. In: Herbert Bassarak (Hg.): Lexikon der Schulsozialarbeit. Baden-Baden: Nomos, S. 277–278.

Gewalt gegen Kinder und Jugendliche – Was ist zu tun? Ein Wegweiser für Berliner Erzieherinnen/Erzieher und Lehrerinnen/Lehrer

Handreichung zur Förderung des Erkennens von Kindesmisshandlung und des adäquaten Umgangs mit Verdachtsfällen