Modul 4: Medizinische Untersuchung und Beweissicherung

Medizinische Untersuchung und Beweissicherung
Psychische Gesundheitsprobleme
Unmittelbares Risiko von Selbstmord und Selbstverletzung
Dokumentation bei Fällen häuslicher Gewalt
Meldepflicht

Lernziele

In diesem Modul werden die wichtigsten Aspekte vorgestellt, die nach einer Offenlegung häuslicher Gewalt zu beachten sind und wie man die Verletzungen durch häusliche Gewalt gerichtsfest dokumentiert.


S.I.G.N.A.L. e.V.: Signale wahrnehmen – statt wegschauen


Medizinische Untersuchung und Beweissicherung

Sie sind bereits Experte für die medizinische Untersuchung, die Behandlung von Verletzungen und die Beweissicherung. Die folgenden Aspekte sind bei häuslicher Gewalt besonders zu beachten.

Überweisen Sie Patienten mit lebensbedrohlichen oder schweren Erkrankungen sofort zur Notfallbehandlung.

  • Bei der Anamnese sollte die übliche medizinische Vorgehensweise befolgt werden. Dabei ist jedoch zu bedenken, dass Opfer, die häusliche Gewalt erlebt haben, wahrscheinlich traumatisiert sind. Daher sollten alle Unterlagen, die sie haben, durchgesehen und Fragen, die sie bereits beantwortet haben, vermieden werden.
  • Erklären Sie alles, was Sie tun, und holen Sie für alles eine informierte Zustimmung der Patientin/des Patienten ein.
  • Wenn Opfer zur Polizei gehen wollen, sagen Sie ihnen, dass sie zuerst forensische Beweise sichern müssen.
  • Sagen Sie ihnen, was das Sammeln von Beweisen erfordern würde.
  • Wenn sie sich noch nicht entschieden haben, ob sie zur Polizei gehen wollen oder nicht, können die Beweise gesammelt und aufbewahrt werden.
  • Wenn Opfer wollen, dass Beweise gesammelt werden, überweisen Sie sie an eine rechtsmedizinische Ambulanz oder eine andere geschulte Fachkraft oder sammeln Sie die Beweise selbst an.
  • Führen Sie eine gründliche körperliche Untersuchung durch. Protokollieren Sie Befunde und Beobachtungen klar und deutlich mit Hilfe von Body-Maps.
  • Dokumentieren Sie die Befunde in die Krankenakten des Patienten oder der Patientin in eigenen Worten. Stellen Sie aber auch weitere Fragen, wenn nötig.

Psychische Gesundheitsprobleme

Viele Opfer, die häuslicher Gewalt ausgesetzt sind, werden als Folge davon psychische Gesundheitsprobleme haben. Wenn die Gewalt, der Übergriff oder die Situation vorbei ist, werden sich diese emotionalen Probleme wahrscheinlich bessern. Die meisten Menschen erholen sich wieder. Es gibt spezifische Möglichkeiten, um Opfern Hilfe und Techniken anzubieten, um ihren Stress zu reduzieren und die Heilung zu fördern.

Einige Opfer werden jedoch mehr leiden als andere. Es ist wichtig, diese Opfer zu erkennen und ihnen bei der Versorgung zu helfen. Sie sollten an einen Psychotherapeuten bzw. eine Psychotherapeutin überwiesen werden.


Unmittelbares Risiko von Selbstmord und Selbstverletzung

Einige Beschäftigte des Gesundheitswesens befürchten, dass die Frage nach Selbstmord das Opfer provozieren könnte, ihn zu begehen. Im Gegenteil: Das Reden über Selbstmord reduziert oft die Angst des Opfers vor Selbstmordgedanken und hilft ihm, sich verstanden zu fühlen.

Wenn das Opfer allerdings:

  • aktuelle Selbstmordgedanken hat bzw. sogar plant, Selbstmord zu begehen oder sich selbst zu schaden,

ODER

eine Vorgeschichte von Gedanken oder Plänen zur Selbstverletzung im vergangenen Monat oder eine Akte der Selbstverletzung im vergangenen Jahr hat, und er/sie jetzt extrem aufgewühlt, gewalttätig, verzweifelt oder unkommunikativ ist, dann besteht eine unmittelbare Gefahr der Selbstverletzung oder des Selbstmords. Diese Opfer sollten damit nicht allein gelassen werden.

Überweisen Sie sie unverzüglich an einen Spezialisten oder eine medizinische Notfalleinrichtung.


Dokumentation bei Fällen häuslicher Gewalt

Neben dem Erkennen und Ansprechen möglicher Gewalterfahrungen, dem Angebot von Schutz und der Weitervermittlung in das Hilfesystem sind eine umfassende Untersuchung und gerichtsfeste Dokumentation körperlicher Verletzungen sowie die Sicherung etwaiger Spuren nach sexueller Gewalt ein wesentlicher Teil der Erstversorgung. Die gerichtsfeste Dokumentation geht über die reguläre medizinische Dokumentation hinaus. Sie ist für die strafrechtliche Verfolgung der Tat(en) von hoher Bedeutung und kann Betroffene z. B. bei der Beantragung von Maßnahmen nach dem Gewaltschutzgesetz, bei der Klärung von Umgangs- und Sorgerechtsfragen oder bei aufenthaltsrechtlichen Fragen wesentlich unterstützen. Die ärztliche Dokumentation von Befunden ist oft der einzige Nachweis für die erlittene Gewalt. Eine gerichtsfeste Dokumentation und eine vertrauliche, polizeiunabhängige Spurensicherung helfen Betroffenen zudem, die Tat auch noch zu einem späteren Zeitpunkt anzuzeigen. Auch für die untersuchenden Ärzte und Ärztinnen ist eine sorgfältige Dokumentation wichtig, da sie eine wertvolle Basis für eine ggf. später erfolgende Zeugenaussage bietet.


IMPRODOVA: Wie man häusliche Gewalt im Gesundheitssektor dokumentiert

Das Video beschreibt die Dokumentation von Fällen häuslicher Gewalt im Gesundheitssektor.


„Die Anwälte sagten, dass es einfach nicht genug Beweise in meinen Gesundheitsakten gebe. Nichts, was darauf hindeuten würde, dass mein Ex an meinen Verletzungen schuld war. Ich war so enttäuscht. Ich dachte, mein Arzt hätte alles aufgeschrieben, was ich gesagt habe.“



Experteninterview mit Daniela Dörfler zu Modul 4: Medizinische Untersuchung und Beweissicherung

Ass. Prof. OA Dr. med. Daniela Dörfler ist Fachärztin für Frauenheilkunde und Geburtshilfe. Sie leitet die Opferschutzgruppe (OSG) des Allgemeinen Krankenhauses (AKH) der Stadt Wien. Gemäß § 15 Wiener Krankenanstaltengesetz „Früherkennung von Gewalt“ wurde die Opferschutzgruppe eingerichtet. Seit dem 1. Januar 2009 schreibt dieses die verpflichtende Einrichtung von Opferschutzgruppen in Zentral- und Schwerpunktkrankenhäusern vor. Diese umfassen ärztliche Vertreterinnen und Vertreter der Frauenheilkunde, der Unfallmedizin und der Psychiatrie, des Pflegedienstes sowie der psychologischen oder psychotherapeutischen Versorgung. Die ambulanten Stellen der Krankenanstalten sind oft die erste Anlaufstelle von gewaltbetroffenen Personen und stellen somit eine wichtige Schnittstelle zu Beratungsstellen dar. Es besteht eine enge Zusammenarbeit mit der Kinderschutzgruppe des AHK. Die Opferschutzgruppe bietet einen wichtigen Beitrag zur Früherkennung und Frühintervention von gewaltbetroffenen Personen. Die Aufgaben des AKH Wien beinhalten die Beratungstätigkeit der betreuenden Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern von Erwachsenen bei Verdacht bzw. Vorliegen von Anzeichen von sexueller, körperlicher und psychischer Gewalt, die Sensibilisierung der in Betracht kommenden Berufsgruppen für Gewalt, das Erstellen von Dokumenten zum strukturierten Vorgehen bei Fragen des Opferschutzes, die Organisation von internen und externen Fortbildungen sowie die Spurensicherung und interdisziplinäre Zusammenarbeit. In dem folgenden Interview beantwortet Ass. Prof. OA Dr. med. Daniela Dörfler die Fragen, was bei der Sicherung von Beweismitteln sowie im Umgang mit Opfern während der Spurensicherung zu beachten ist.


Grundlagen für das gerichtsfeste Dokumentieren und Spurensichern

Dokumentationsbogen und Kit für die Spurensicherung einsetzen

Nutzen Sie für die Dokumentation von Verletzungen und die Sicherung von Spuren stets einen Dokumentationsvordruck und ein Spurensicherungs-Kit. Sie werden damit Schritt für Schritt durch die Untersuchung geleitet und bei einem systematischen Vorgehen unterstützt.

Quelle: https://www.bayerisches-aerzteblatt.de/inhalte/details/news/detail/News/vertrauliche-spurensicherung-bei-opfern-sexueller-gewalt.html

Auf den folgenden Seiten finden Sie weitere Dokumentationsbögen, die Sie im Alltag nutzen können:

Ärztlicher Befundbericht für Opfer nach sexualisierter Gewalt
Dokumentationsbogen mit Körperschemata A3 Format
Dokumentationsbogen mit Körperschemata A4 Format
Dokumentationsbogen Formular für Onlinebearbeitung
Konsilbogen Mund- Kiefer- Gesichtschirurgie und Zahnmedizin
Konsilbogen MKG und Zahnmedizin Formular für Onlinebearbeitung
Ärztliche Dokumentation nach häuslicher Gewalt – körperlicher Misshandlung
Formulierungshilfe für die gerichtsfeste Befunddokumentation – PD. Dr. med. H. Graß
Dokumentation und Untersuchung bei sexualisierter Gewalt

Für Laien verständlich formulieren

Ihre Dokumentation wird in erster Linie von nicht medizinisch ausgebildeten Personen wie Rechtsanwälten und Rechtsanwältinnen, Polizei, Justiz und Behörden genutzt. Dokumentieren Sie für diese Berufsgruppen verständlich und lesbar. Verzichten Sie auf Abkürzungen und medizinische Fachbegriffe.

Beschreibung, keine Interpretation

Dokumentieren Sie rein deskriptiv! Verzichten Sie auf eine Interpretation von Befunden wie z. B. auf die Einschätzung des Wundalters oder auf die Beurteilung, ob eine Verletzung fremd beigebracht wurde.

Erst dokumentieren, dann versorgen

Dokumentieren Sie Verletzungen, wenn möglich, vor ihrer medizinischen Versorgung. Hat die Behandlung Vorrang, prüfen Sie, ob eine fotografische Dokumentation der unversorgten Verletzung(en) möglich ist. Geht es um sexuelle Gewalt, denken Sie daran, Material (z. B. Kleidung), das DNA-Spuren der gewaltausübenden Person enthalten könnte, aufzubewahren.

Verletzungen fotografieren

Fotos sind besonders aussagestark und können die schriftliche Dokumentation ergänzen. Verletzungen im vaginalen oder analen Bereich sollten Sie nur bei eindeutigen Befunden fotografieren.

Spuren sichern

Eine Spurensicherung erfolgt in aller Regel nur im Zusammenhang mit sexueller Gewalt. Die Durchführung übernimmt soweit möglich der Facharzt oder die Fachärztin, der bzw. die auch die medizinische Versorgung leistet. Für weibliche Betroffene sollte eine Gynäkologin zur Verfügung stehen, für männliche ein Urologe, Abdominalchirurg oder Unfallchirurg (bzw. chirurgischer Dienst). Hat der Patient oder die Patientin die Tat polizeilich (noch) nicht angezeigt, besteht die Möglichkeit einer vertraulichen Sicherung von Spuren.


Wesentliche Inhalte der Dokumentation

Rahmendaten

Erforderlich sind Angaben zum Patienten bzw. zur Patientin, zur untersuchenden Person, zu weiteren anwesenden Personen inkl. Sprachmittlern und Sprachmittlerinnen sowie Angaben zu Ort und Uhrzeit der Untersuchung.

Anamnestische Angaben

Notieren Sie anamnestische Angaben nur soweit, wie sie für das Verletzungsgeschehen von Bedeutung sind. Wesentlich sind Informationen zum Datum, zum ungefähren Zeitpunkt und zum Ort des Ereignisses, zu ggf. eingesetzten Tatwerkzeugen, zu beteiligten oder anwesenden Personen, zur Zustands-/Bewusstseinslage des Patienten bzw. der Patientin bei der Untersuchung sowie kurze Angaben zum Ereignisablauf (was ist wann, wo, wie, durch wen erfolgt). Wenn Sie neben dem Dokumentationsbogen ein zusätzliches Blatt nutzen, beschriften Sie es wie den Dokumentationsbogen mit Datum, Uhrzeit, Patientendaten. Notieren Sie Angaben zum Ereignis in wörtlicher Rede. Sie machen damit kenntlich, dass es sich um Angaben der verletzten Person und nicht um Ihre Interpretation handelt. Geben Sie an, wer Angaben gemacht hat, falls es nicht der Patient bzw. die Patientin selbst war.

Befunderhebung

Orientieren Sie sich an den Vorgaben des Dokumentationsbogens, den Sie nutzen. Dokumentieren Sie sowohl positive als auch negative Befunde. Wenn Sie eine Körperregion nicht untersucht haben, notieren Sie dies und vermerken Sie den Grund – z. B. „Patient/in lehnt dies ab“. Grundsätzlich ist eine Ganzkörperuntersuchung zu empfehlen.

Angriffe gegen den Hals

Von besonderer Dringlichkeit ist eine Untersuchung bei Verdacht des Angriffs gegen den Hals (Würgen/Drosseln). Strafrechtlich kann es sich ggf. um eine versuchte Tötung handeln. Verletzungsbilder, die hierauf einen Hinweis geben, verschwinden zum Teil rasch. Dokumentieren Sie stets: Stauungsblutungen (Petechien) in den Lid- und Bindehäuten, der Mundschleimhaut oder der Hinterohrregion (relevante Verminderung des Blutabflusses); vorübergehende Bewusstlosigkeit; Wahrnehmungsstörungen (sog. Aura), Kontrollverlust über die Ausscheidungsorgane, Halsschmerzen, Schluckbeschwerden und Globusgefühl.

Befundbeschreibung

Beschreiben Sie jede Verletzung in den Dimensionen: Lokalisation, Form/Begrenzung, Größe, Farbe, Art. Nutzen Sie für die Befundbeschreibung, wenn möglich, eine Tabelle. Zeichnen Sie jede Verletzung in ein Körperschema ein. Sie erstellen damit eine Übersicht über Lage und ggf. Konzentrierung von Verletzungen am Körper.

Fotografische Verletzungsdokumentation

Nutzen Sie eine Digitalkamera. Setzen Sie einen Maßstab zur Kennzeichnung der Größenverhältnisse ein, idealerweise ein Winkellineal. Vermerken Sie für jede Aufnahme Datum und Namen des Patienten oder der Patientin. Wenn Sie die kamerainterne Anzeige nutzen, prüfen Sie, ob die Einstellungen korrekt sind. Fertigen Sie pro Verletzung mind. zwei Fotografien an. Eine Übersichtsaufnahme zur Orientierung der Verletzung am Körper und eine Detailaufnahme der Verletzung mit Maßstab und ggf. einer Farbkarte. Fotografieren Sie im rechten Winkel zur Verletzung (Lotrecht) und halten Sie den Maßstab direkt an die Verletzung. Fotografieren Sie vor neutralem Hintergrund und mit möglichst indirekter, guter Beleuchtung. Prüfen Sie auf dem Display, ob die Verletzung klar und vollständig abgebildet ist. Erstellen Sie im Zweifelsfall weitere Fotos. Legen Sie alle Fotos an einem sicheren Speicherort ab (fallbezogene Speicherkarte, passwortgeschützter Ordner). Löschen Sie alle Bilder von der Kamera bzw. formatieren Sie die SD-Karte neu. Fotografieren Sie Befunde an sensiblen Körperregionen wie Brüsten oder Genitalien nur bei eindeutigen Befunden wie Einrissen, Bissen, Verletzungen durch Gegenstände oder Verbrennungen. Verzichten Sie auf eine Totalaufnahme des gesamten Genitals. Reichen Sie ausgedruckte Fotos nur in einem Umschlag weiter.


Besondere Aspekte bei sexueller Gewalt

Polizeiliche Anzeige

Eine gerichtsfeste Dokumentation bzw. eine Spurensicherung nach sexueller Gewalt kann mit oder ohne polizeiliche Anzeige des Patienten oder der Patientin erfolgen. Klären Sie, ob der Patient bzw. die Patientin Strafanzeige gestellt hat oder stellen möchte. Beachten Sie Zeitfenster für die Sicherung von Spuren und die zum Zeitpunkt der Vorstellung verfügbaren Angebote. Bei patientenbeauftragter Dokumentation oder vertraulicher Spurensicherung werden Unterlagen aufbewahrt und der Polizei nur auf Wunsch, z. B. im Falle einer späteren polizeilichen Anzeige, ausgehändigt. Eine schriftliche Entbindung von der Schweigepflicht und die Zustimmung zur Herausgabe der Unterlagen ist stets erforderlich.

Untersuchung und Spurensicherung

Tragen Sie sterile OP-Handschuhe zur Vermeidung von Kontaminierung z. B. von DNA-Spuren mit Ihrer eigenen DNA. Halten Sie Aqua dest. in Kleinstverpackungen bereit. Entnehmen Sie für jeden benannten Untersuchungsschritt die jeweils in Ihrem Dokumentationsbogen aufgeführten Abstriche. Arbeiten Sie nur mit selbsttrocknenden Abstrichen. Orientieren Sie sich auch an den Angaben des Patienten bzw. der Patientin für die Entscheidung, wo Spuren zu entnehmen sind. Kann der Patient bzw. die Patientin selbst keine Angaben machen, führen Sie unbedingt die vollständige Spurensicherung (Vorgaben des Dokumentationsbogens/Kit) durch.

  • Proben für die toxikologische Untersuchung: Grundsätzlich empfiehlt sich die Sicherung einer Blut- und Urinprobe zum Nachweis bzw. Ausschluss einer zeitnahen Betäubungsmittel-, Medikamenten- oder Alkoholaufnahme. Eine Haarprobe kann bei Bedarf – frühestens 4 Wochen nach der angegebenen Aufnahme – zusätzlich gesichert werden.
  • KO-Drogen: Bei ungeklärter Bewusstlosigkeit oder Gedächtnislücken bedenken Sie die Möglichkeit einer unwissentlichen Verabreichung von Drogen.
  • Kleidung: Stellen Sie Kleidung, die zur Tatzeit getragen wurde, sicher – sie könnte DNA-Spuren des Täters oder der Täterin enthalten. Verpacken Sie Kleidung einzeln in Papiersäcken. Verschließen Sie die Säcke und beschriften Sie sie für die spätere Zuordnung mit dem Namen des Patienten bzw. der Patientin und dem Datum.
  • Genitale/bzw. anogenitale Untersuchung: Falls nicht bereits erfolgt, sollte die Harnblase erst nach der Untersuchung entleert werden. Untersuchen Sie die äußeren Genitalien und den perianalen Bereich auf Verletzungen und Fremdkörper zuerst (vor Einführung des Spekulums).
  • Vaginale Untersuchung: Wenn keine vaginale Penetration stattgefunden hat, ist eine vaginale Untersuchung nicht nötig. Sie sollte jedoch immer angeboten werden. Untersuchen Sie Vagina und Cervix auf Verletzungen und Fremdkörper.
  • Untersuchung des männlichen Genitals: Untersuchen Sie Penis und Hoden auf Verletzungen, besonders zu achten ist auf Bissverletzungen am Penis oder Quetschungen der Hoden.
  • Anale Untersuchung: Eine Inspektion des Anus ist in Seitenlage mit angezogenen Beinen am besten durchzuführen. Bei Verdacht auf Verletzungen des Rektums oder der Analöffnung sollte eine proktologische Untersuchung erfolgen.
Medizinische Versorgung

Klären Sie, ob eine Notfallverhütung erforderlich/gewünscht ist. Wägen Sie gemeinsam mit dem Patienten oder der Patientin das Risiko einer HIV-Infektion oder einer anderen sexuell übertragbaren Erkrankung ab und verfahren Sie den aktuellen fachlichen Standards entsprechend. Vermitteln Sie ggf. an eine Einrichtung zur HIV-Beratung und/oder HIV-Postexpositionsprophylaxe (CAVE: wenn indiziert, muss HIV-PEP schnellstmöglich und innerhalb von 72 Std. begonnen werden) weiter.


Abschließende Informationen, psychosoziale und medizinische Nachsorge

  • Geben Sie dem Patienten oder der Patientin auf Wunsch eine Kopie des Dokumentationsbogens und der Fotos mit. Sprechen Sie Sicherheitsfragen bezüglich der Aufbewahrung an (Zugriff durch die gewaltausübende Person?). Weisen Sie darauf hin, dass er/sie die Kopie beliebig lange aufbewahren und nutzen kann.
  • Erfragen Sie Sicherheits- und Schutzbedürfnisse des Patienten oder der Patientin und ggf. seiner/ihrer Kinder. Bei Hinweisen auf eine mögliche Gefährdung und wenn der Patient oder die Patientin nicht nach Hause zurückkehren möchte, vermitteln Sie an Hilfeeinrichtungen.
  • Informieren Sie über psychosoziale Beratungsangebote, die bei der Bewältigung der erlittenen Gewalt und bei der Klärung von Handlungsoptionen unterstützen. Unterstützen Sie den Patienten oder die Patientin bei der Kontaktaufnahme. Vereinbaren Sie gemeinsam mit ihm oder ihr einen Termin – z. B. in einer Fachberatungsstelle bei häuslicher und/oder sexueller Gewalt. Geben Sie schriftliche Informationen zur weiteren Bewältigung des Erlebten mit.
  • Sind Kinder involviert, informieren Sie den Patienten oder die Patientin über mögliche Folgen für die Kinder und Unterstützungsangebote. Nutzen Sie die in Ihrer Klinik/Praxis bestehenden Regeln im Umgang mit Kinderschutzfällen.
  • Besprechen Sie eine ggf. erforderliche medizinische Nachsorge mit dem Patienten oder der Patientin. Bieten Sie, wenn möglich, einen Termin an oder vermitteln Sie einen solchen an anderer Stelle. Geben Sie dem Patienten oder der Patientin ggf. einen Arztbrief für die Weiterversorgung mit.

Hier finden Sie weitere Empfehlungen zur gerichtsfesten Dokumentation und Spurensicherung nach häuslicher und sexueller Gewalt sowie ein Beispiel einer gerichtsfesten Dokumentation nach häuslicher Gewalt (ab S. 21).

Quelle: Empfehlungen zur gerichtsfesten Dokumentation und Spurensicherung nach häuslicher und sexueller Gewalt für Arztpraxen und Krankenhäuser in Berlin


Meldepflicht

Wenn ein Opfer davon spricht, dass es Gewalt erlebt oder verübt hat, und man glaubt, dass man einen berechtigten Grund zur Annahme hat, dass einem Kind erheblicher Schaden droht (Kindeswohlgefährdung), muss dies der Polizei bzw. dem Jugendamt gemeldet werden.

Man sollte sich über die Besonderheiten des Gesetzes und die Bedingungen, unter denen man zur Anzeige verpflichtet ist (z. B. die Anzeige der Vergewaltigung eines Kindes oder Kindesmissbrauchs) informieren und dem Opfer versichern, dass man außerhalb dieser Meldepflicht niemandem ohne dessen Erlaubnis davon erzählen wird. Man kann zum Beispiel sagen: „Was Sie mir sagen, ist vertraulich. Das heißt, ich werde niemandem sonst erzählen, was Sie mir mitteilen. Die einzige Ausnahme hiervon ist …“

Der deutschen Rechtslage entsprechend ist man verpflichtet, Selbst- und Fremd-gefährdungen bei der Polizei sowie Kindeswohlgefährdungen beim Jugendamt anzuzeigen.