Mehr als jede fünfte Frau meldet häusliche Gewalt zum ersten Mal ihrem Hausarzt bzw. ihrer Hausärztin.
Oft sind Ärzte und Ärztinnen die einzigen Personen, denen das Opfer davon erzählt.
Deren Kompetenz und Sensibilität sind entscheidend.
Lernziele
Das Ziel ist es, einen Überblick zu geben, wie Patienten und Patientinnen, die Opfer von häuslicher Gewalt geworden sind, sowie deren Kinder identifiziert werden können und wie angemessen auf sie reagiert werden sollte. Es werden zudem mögliche Indikatoren für häusliche Gewalt sowie ihre physischen und psychischen Folgen vorgestellt. Die Einführung enthält zudem Richtlinien für die Patientenversorgung sowie einige rechtliche Informationen, die für Ihre Rolle relevant sind.
IMPRODOVA: Häusliche Gewalt im Gesundheitssektor
Das Video beschreibt die einzelnen Schritte, wie man in Fällen häuslicher Gewalt im Gesundheitssektor vorgehen sollte.
Fallstudie: Offenlegung von häuslicher Gewalt gegenüber dem Hausarzt
Sabrina ist Buchhalterin, 30 Jahre alt, und seit acht Jahren mit einem Bauarbeiter verheiratet. Sie stellt sich ihrem Hausarzt mit ständiger Müdigkeit und Kopfschmerzen vor, die sie seit über einem Jahr plagen. Die Kopfschmerzen haben sich im letzten Monat (seit der Entlassung ihres Mannes) verschlimmert und sind am Ende des Tages am schlimmsten. Sie hat Schlafprobleme und berichtet über Schmerzen am ganzen Körper. Sie war im vergangenen Jahr in mehreren Kliniken, es wurde aber nichts gefunden. Niemand konnte ihr helfen. Es wurden Bluttests gemacht, ihr wurden Schmerzmittel verschrieben, ihr wurde geraten, sich mehr zu bewegen und ihre Ernährung umzustellen. Beim heutigen Termin, so Sabrina, brauche sie dringend etwas, das für sie getan werden könne, da ihr Mann wegen der fehlenden Ergebnisse langsam ungeduldig werde. Sie sei besorgt, dass er sehr wütend auf sie werden würde, wenn sie heute nach Hause zurückkehre. Sabrinas Arzt fragt: „Was passiert, wenn Ihr Partner wütend wird?“ Diese Frage ist ihr bisher noch nicht gestellt worden, und Sabrina zögert mit der Antwort. Ihr Arzt sagt: „Ich würde wirklich gerne hören, was zu Hause vor sich geht.“ Sabrina bricht in Tränen aus, und langsam erzählt sie von ihren Erfahrungen mit Partnergewalt. Nachdem der Arzt das Risiko mithilfe festgelegter Verfahren bewertet hat, kommt er zu der Einschätzung, dass Sabrina derzeit nicht in akuter Gefahr ist, dass die Gewalt eskaliert. Sabrina bestätigt, dass sie das Gefühl hat, mit dem, was jetzt geschieht, umgehen zu können. Sie möchte daher nicht in ein Frauenhaus vermittelt werden und sich auch nicht bei der Polizei melden. Diese Optionen wurden ihr von ihrem Arzt – trotz des nicht akuten Risikos einer Gewalteskalation – angeboten. Sie vereinbaren einen Folgetermin zur weiteren Unterstützung. Der Arzt weist Sabrina auf die Nummer der Gewaltopferhotline hin, bei der Sabrina sich jederzeit melden kann.
Für weitere Fallstudien und szenarienbasiertes Lernen klicken Sie hier.
Was ist häusliche Gewalt?
Häusliche Gewalt ist ein Machtmissbrauch innerhalb einer häuslichen Beziehung: zwischen Verwandten, Partnern oder Ex-Partnern. Sie beinhaltet, dass eine Person Kontrolle über eine andere Person ausübt, sie einschüchtert und/oder ängstigt. Häusliche Gewalt wird oft als ein Missbrauchsmuster erlebt, das mit der Zeit eskaliert.
Häusliche Gewalt ist nicht notwendigerweise physisch und kann folgende Formen einschließen:
- sexuellen Missbrauch,
- emotionalen oder psychologischen Missbrauch,
- verbalen Missbrauch,
- Stalking und Einschüchterung einschließlich des Einsatzes von Informations- und Kommunikationstechnologie,
- soziale und geographische Isolation,
- finanziellen Missbrauch,
- Gewalt gegenüber Haustieren,
- Sachschäden.
Häusliche Gewalt ist ein großes gesellschaftliches Problem mit verschiedenen negativen gesundheitlichen Folgen. Zusätzlich zu akuten Verletzungen kann häusliche Gewalt zu mehreren Langzeiterkrankungen führen und ist mit einem insgesamt schlechten Gesundheitszustand und hohen Krankenhaus-Aufenthaltsraten verbunden. In Ermangelung eines klaren Folgeprotokolls bleiben die meisten Opfer ohne jegliche weitere Intervention.
Das Rad der Macht und Kontrolle basierend auf den Domestic Abuse Intervention Programs (DAIP)
Das Rad der Macht und Kontrolle veranschaulicht die häufigsten missbräuchlichen Verhaltensweisen und Taktiken.
Ausführliche Informationen zu den Formen und Dynamiken häuslicher Gewalt finden Sie in Modul 1.
Mögliche Indikatoren für häusliche Gewalt
Im Folgenden sind Indikatoren aufgeführt, die mit dem Auftreten häuslicher Gewalt in Verbindung gebracht werden. Es ist zu beachten, dass keine oder alle diese Indikatoren vorhanden sein können, aber nicht müssen. Darüber hinaus können sie auch Indikatoren für andere Probleme sein. Die Verwendung von Indikatoren kann in der Praxis direkte Fragen ergänzen.
Physische Indikatoren zur Identifizierung Erwachsener als potenzielle Opfer von häuslicher Gewalt:
- unerklärliche Blutergüsse und andere Verletzungen:
- insbesondere Kopf-, Hals- und Gesichtsverletzungen,
- Blutergüsse in verschiedenen Stadien,
- erlittene Verletzungen passen nicht zur Anamnese,
- Biss-Spuren, ungewöhnliche Verbrennungen,
- Verletzungen an nicht einsehbaren Körperteilen (einschließlich Brust, Bauch und/oder Genitalien), insbesondere bei einer Schwangerschaft;
- Fehlgeburten und andere Schwangerschaftskomplikationen,
- chronische Erkrankungen einschließlich Kopfschmerzen, Schmerzen und Beschwerden in Muskeln, Gelenken und Rücken,
- sexuell übertragbare Infektionen und andere gynäkologische Probleme.
Psychologische Indikatoren zur Identifizierung Erwachsener als potenzielle Opfer von häuslicher Gewalt:
- emotionale Belastung, z. B. Angst, Unentschlossenheit, Verwirrung und Feindseligkeit,
- Schlaf- und Essstörungen,
- Angstzustände/Depressionen/pränatale Depressionen,
- psychosomatische Beschwerden,
- Selbstverletzung oder Selbstmordversuche,
- ausweichendes Verhalten oder Scham wegen Verletzungen,
- Widerwille, Ratschläge zu befolgen,
- soziale Isolation/kein Zugang zu Verkehrsmitteln,
- unterwürfiges Verhalten/geringes Selbstwertgefühl,
- Alkohol- oder Drogenmissbrauch,
- Angst vor Körperkontakt,
- nervöse Reaktionen auf Körperkontakt/ schnelle und unerwartete Bewegungen.
Weitere Indikatoren zur Identifizierung Erwachsener als potenzielle Opfer von häuslicher Gewalt:
- mehrere Vorstellungen in der Notaufnahme, Patient/Patientin erscheint nach der offiziellen Sprechstunde,
- der Partner bzw. die Partnerin übernimmt den Großteil der Gespräche und besteht darauf, bei dem Patienten bzw. der Patientin zu bleiben,
- ängstliches Verhalten in der Gegenwart des Partners bzw. der Partnerin,
- häufige Abwesenheit von der Arbeit oder vom Studium.
Physische Indikatoren zur Identifizierung von Kindern als potenzielle Opfer oder Zeugen von häuslicher Gewalt:
- Schwierigkeiten beim Essen/Schlafen,
- langsame Gewichtszunahme (bei Säuglingen),
- körperliche Beschwerden,
- Essstörungen.
Psychologische Indikatoren zur Identifizierung von Kindern als potenzielle Opfer oder Zeugen von häuslicher Gewalt:
- aggressives Verhalten und aggressive Sprache,
- Depressionen, Angstzustände und/oder Selbstmordversuche,
- nervöses und zurückgezogenes Auftreten,
- Schwierigkeiten, sich an Veränderungen anzupassen,
- regressives Verhalten bei Kleinkindern,
- Verzögerungen oder Probleme bei der Sprachentwicklung,
- psychosomatische Krankheiten,
- Ruhelosigkeit und Konzentrationsprobleme,
- abhängige, traurige oder verschwiegene Verhaltensweisen,
- Bettnässen,
- Tierquälerei,
- auffälliger Rückgang der Schulleistungen,
- Kämpfen mit Gleichaltrigen,
- überfürsorglich oder Angst davor, die Mutter zu verlassen,
- Diebstahl und/oder soziale Isolation,
- sexuell missbräuchliches Verhalten,
- Gefühle der Wertlosigkeit.
Indikatoren für häusliche Gewalt werden in Modul 2 ausführlicher behandelt.
Stufenweises Vorgehen nach Offenlegung häuslicher Gewalt
- Urteilsfreies Zuhören und Validierung
- Erste Risikobewertung
- Vermittlung an z. B. Polizei, Rechtsberatung, Opferhilfe (nur mit dem Einverständnis des Opfers möglich)
- Dokumentation für juristische Zwecke
- Meldepflicht – falls erforderlich
- Fortlaufende Betreuung
Wie kann man mit Patienten bzw. Patientinnen über häusliche Gewalt sprechen?
In jeder Situation, in der man das Vorliegen von häuslicher Gewalt vermutet, kann man indirekt oder direkt danach fragen. Wenn man Bedenken hat, dass ein Patient oder eine Patientin häusliche Gewalt erlebt, sollte man darum bitten, mit ihm oder ihr allein zu sprechen – getrennt vom Partner bzw. der Partnerin oder anderen Familienmitgliedern. Es ist wichtig zu verstehen, dass sich das Opfer sehr oft selbst die Schuld gibt oder versucht, den Täter oder die Täterin zu schützen. Zu Beginn einer Situation, die misstrauisch macht, kann man immer allgemeine Fragen darüber stellen, ob die gegenwärtige Beziehung oder andere häusliche Beziehungen des Patienten oder der Patientin sich auf seine oder ihre Gesundheit und sein bzw. ihr Wohlbefinden auswirken. Es ist wichtig, unvoreingenommen zuzuhören.
Zum Beispiel:
- „Wie läuft es zu Hause?“
- „Wie kommen Sie und Ihr Partner bzw. Ihre Partnerin miteinander aus?“
- „Wie streiten Sie zu Hause?“/“Können Sie sich mit Ihrem Partner/Ihrer Partnerin streiten?“
- „Passiert sonst noch etwas in Ihrer Familie, das Ihre Gesundheit beeinträchtigen könnte?“
Es ist wichtig zu wissen, dass einige Opfer, die zu häuslicher Gewalt befragt werden, sich eher offenbaren, wenn sie in einer sicheren Umgebung befragt werden. Neben indirekten Fragen kann man auch direkte Fragen zu jeglicher Art von Gewalt stellen.
Zum Beispiel:
- „Haben Sie Angst zu Hause?“/„Gibt es Zeiten, in denen Sie Angst vor Ihrem Partner bzw. Ihrer Partnerin oder einem anderen Mitglied Ihrer Familie haben?“
- „Sind Sie um Ihre Sicherheit oder die Sicherheit Ihrer Kinder besorgt?“
- „Fühlen Sie sich durch die Art, wie Ihr Partner bzw. Ihre Partnerin oder ein anderes Mitglied Ihrer Familie Sie behandelt, unglücklich oder deprimiert?“
- „Hat Ihr Partner bzw. Ihre Partnerin oder ein anderes Mitglied Ihrer Familie Sie jemals verbal eingeschüchtert oder verletzt?“
- „Hat Ihr Partner bzw. Ihre Partnerin oder ein anderes Mitglied Ihrer Familie Sie jemals physisch bedroht oder verletzt?“
- „Hat Ihr Partner bzw. Ihre Partnerin oder ein anderes Mitglied Ihrer Familie Sie jemals zum Sex gezwungen, obwohl Sie es nicht wollten?“
- „Häusliche Gewalt kommt sehr häufig vor. Ich frage viele meiner Patienten und Patientinnen nach erlebtem Missbrauch, denn niemand sollte in Angst vor seinem Partner bzw. seiner Partnerin oder einem anderen Mitglied der eigenen Familie leben müssen.“
Wenn man bestimmte klinische Symptome sieht und sich seines Verdachts sicher ist, kann man dazu spezifische Fragen stellen (z. B. Blutergüsse). Dazu zählen:
- „Sie scheinen sehr ängstlich und nervös zu sein. Ist zu Hause alles in Ordnung?“
- „Wenn ich solche Verletzungen sehe, frage ich mich, ob Sie jemand verletzt haben könnte.“
- „Gibt es noch etwas, worüber wir nicht gesprochen haben, das zu diesem Zustand beigetragen haben könnte?“
Wenn die Sprachkenntnisse des Patienten bzw. der Patientin ein Hindernis für die Erörterung dieser Fragen darstellen, sollte man mit einem qualifizierten Dolmetscher zusammenarbeiten. Der Partner bzw. die Partnerin des Patienten bzw. der Patientin, andere Familienmitglieder oder Kinder sollten nicht als Dolmetscher hinzugezogen werden. Es könnte die Sicherheit des Patienten bzw. der Patientin gefährden, oder es könnte ihnen unangenehm sein, über ihre Situation zu sprechen.
Weitere Informationen, wie man mit Opfern häuslicher Gewalt spricht, finden Sie in Modul 3.
Reaktion auf die Offenlegung von Gewalt
Die unmittelbare Reaktion und Haltung des Behandlers, wenn ein/e Patient/in häusliche Gewalt offenbart, macht einen Unterschied. Als erste Reaktion auf die Enthüllung ist es sehr wichtig, dass die Opfer angehört werden, das Gehörte validiert und ihre eigene Sicherheit und die ihrer Kinder beurteilt wird. Außerdem müssen sie auf ihrem weiteren Weg aus der Gewalt, hinein in eine sichere Umgebung unterstützt werden.
Mit der Enthüllung häuslicher Gewalt sind auch bestimmte Melde- und Anzeigepflichten verbunden, die je nach Berufsgruppe variieren. In Österreich betrifft das neben der polizeilichen Anzeigepflicht bei Verdacht auf Offizialdelikte auch die Anzeige- und Meldepflicht pädagogischer und psychosozialer Berufsgruppen bei Verdacht auf unmittelbare Selbst- oder Fremdgefährdung sowie Kindeswohlgefährdung. Medizinische Berufe unterliegen ebenfalls speziellen Meldepflichten, die in den jeweiligen Berufsgesetzen geregelt sind (geregelt z. B. in: Bundes-Kinder- und Jugendhilfegesetz 2013, Wiener Kindergartengesetz, Wiener Tagesbetreuungsgesetz, Schulunterrichtsgesetz; Psychotherapiegesetz, Psychologengesetz 2013 und Musiktherapiegesetz).
Zuhören
Richtig angehört zu werden, ohne dabei ver- oder beurteilt zu werden, kann für ein Opfer, das häusliche Gewalt erfahren hat, eine stärkende Erfahrung sein. Erkennen Sie an, dass das Opfer der Experte bzw. die Expertin für sein/ihr eigenes Leben und seine/ihre Erfahrungen ist. Er/Sie sollte nicht dazu gedrängt werden, Entscheidungen zu treffen.
Vermittlung, dass man den Opfern glaubt
„Das muss beängstigend für Sie gewesen sein.“
Validierung der Entscheidung zur Offenlegung
„Es ist gut, dass Sie darüber gesprochen haben. Ich verstehe, wie schwierig es ist, darüber zu sprechen.“
Betonung der Unannehmbarkeit von Gewalt ohne Verurteilung des Täters bzw. der Täterin
„Gewalt ist inakzeptabel. Sie haben es nicht verdient, so behandelt zu werden.“
Deutlich machen, dass das Opfer nicht schuld ist
Es sollte der Eindruck vermieden werden, dass das Opfer für die Gewalt verantwortlich ist, sie ausgelöst hat oder dass er bzw. sie in der Lage ist, die Gewalt zu kontrollieren, indem er bzw. sie sein bzw. ihr Verhalten ändert.
Keine Fragen stellen, die beim Opfer zusätzlichen Stress und ein Gefühl der Ohnmacht auslösen könnten – die folgenden Fragen müssen vermieden werden:
„Warum verlassen Sie Ihren Partner bzw. Ihre Partnerin nicht?“
„Was hätten Sie tun können, um diese Situation zu vermeiden?“
„Warum hat er/sie Sie geschlagen?“
Aspekte, die nach der Aufdeckung häuslicher Gewalt berücksichtigt werden sollten, sowie die medizinische Untersuchung und Beweissicherung, werden in Modul 4 behandelt.
Erste Risikobewertung
Dem Patienten bzw. der Patientin sollte dabei geholfen werden, seine bzw. ihre unmittelbare und zukünftige Sicherheit sowie die seiner bzw. ihrer Kinder zu beurteilen. Die Risikobeurteilung nach bewährten Verfahren umfasst
- das Sammeln relevanter Fakten über die Situation,
- das Erfragen der eigenen Risikowahrnehmung des Opfers,
- das Fällen eines professionellen Urteils.
Möglicherweise muss der Patient bzw. die Patientin an einen spezialisierten Dienst für häusliche Gewalt überwiesen werden.
Der stärkste Indikator für zukünftige Gewalt ist das aktuelle und vergangene Verhalten des Täters bzw. der Täterin.
Dem Patienten bzw. der Patientin kann auch dazu geraten werden, zur Polizei zu gehen, damit diese die Sicherheit des Opfers zusätzlich gewährleistet.
Es ist wichtig, dass die Person in ein Gespräch über ihre Risikowahrnehmung und ihr Sicherheitsmanagement in der Vergangenheit einbezogen wird. Alle Pläne, die gemacht wurden und werden, müssen zur späteren Bezugnahme dokumentiert werden!
Eine erste Risikobewertung umfasst mindestens die folgenden Punkte.
- Mit dem Opfer in einem privaten Rahmen sprechen
- Unmittelbare Anliegen prüfen:
- Fühlt sich der Patient bzw. die Patientin nach dem Termin sicher zu Hause?
- Sind seine oder ihre Kinder sicher?
- Benötigt er oder sie sofort einen sicheren Ort?
- Muss er oder sie bei den nächsten Schritten zu seiner oder ihrer Sicherheit unterstützt werden?
- Muss er oder sie einen alternativen Ausgang aus dem Gebäude, in dem er/sie sich befindet, in Betracht ziehen?
- Wenn die unmittelbare Sicherheit kein Thema ist, muss die zukünftige Sicherheit des Patienten bzw. der Patientin überprüft werden:
- Hat der Täter bzw. die Täterin schon einmal körperlichen Schaden verursacht (z. B. durch Schläge)?
- Hat sich das Verhalten des Täters bzw. der Täterin in letzter Zeit verändert oder ist es eskaliert?
- Hat der Täter bzw. die Täterin Zugang zu Waffen oder anderen Gegenständen, um schwere körperliche Schäden zu verursachen?
- Benötigt der Patient bzw. die Patientin Unterstützung bei der Überweisung an die Polizei oder einen Rechtsdienst?
- Hat der Patient bzw. die Patientin Telefonnummern für Notfälle?
- Braucht der Patient bzw. die Patientin eine Überweisung an einen Dienst für häusliche Gewalt, um einen Notfallplan zu erstellen?
- Wohin würde der Patient bzw. die Patientin gehen, wenn er oder sie die eigene Wohnung verlassen müsste?
- Wie würde der Patient bzw. die Patientin dorthin gelangen?
- Was würde der Patient bzw. die Patientin mitnehmen?
- An wen könnte sich der Patient bzw. die Patientin für Unterstützung wenden?
Die Risikobewertung ist ein fortlaufender Prozess. Es kann sein, dass das Opfer erneut kontaktiert werden muss, um diesen ersten Sicherheitsplan weiterzuverfolgen.
Weitere Informationen zur Risikobewertung und Verbesserung der Sicherheit finden Sie in Modul 5.
Dokumentation für juristische Zwecke
- Die polizeilichen Ermittlungen und zukünftigen Gerichtsverfahren können unterstützt werden, indem man detailliert dokumentiert.
- Die körperlichen Verletzungen, einschließlich Art, Ausmaß, Alter und Ort, müssen beschrieben werden. Wenn vermutet wird, dass Gewalt eine Ursache ist, der Patient bzw. die Patientin dies aber nicht bestätigt hat, fügt man einen Kommentar bei und stellt sicher, dass die Verletzungen genau erklärt werden. Wenn es ein offizielles Formular oder eine Vorlage für die Dokumentation von Verletzungen bei häuslicher Gewalt gibt, verwendet man dieses. Mehr Informationen auf der Seite der Ärztekammer Westfalen-Lippe.
- Es wird aufgezeichnet, was der Patient bzw. die Patientin gesagt hat (in Anführungszeichen).
- Jedes relevante Verhalten, das man beobachtet hat, wird aufgezeichnet – und zwar detailliert und sachlich anstatt eine allgemeine Meinung zu äußern. Z. B. anstatt „Die Patientin war verzweifelt“, schreibt man: „Die Patientin weinte während des Termins, zitterte sichtbar und musste mehrmals innehalten, um sich zu sammeln, bevor sie eine Frage beantworten konnte.“
- Es sollten Fotos von Verletzungen gemacht werden. Eine weitere Möglichkeit besteht darin, Fotos von Verletzungen beglaubigen zu lassen, die zum Zeitpunkt der Konsultation vorgelegt wurden. Die Aktennotizen müssen das Datum und die Uhrzeit enthalten und den Patienten bzw. die Patientin eindeutig identifizieren. Man muss sich eindeutig als Verfasser bzw. Verfasserin identifizieren und den Aktenvermerk unterschreiben. Die Akten dürfen keine Verallgemeinerungen oder unbegründete Meinungen enthalten. Eventuelle Fehler sollten korrigiert und initialisiert werden, der Bericht sollte der Reihe nach dargelegt werden. Es sollten nur genehmigte Symbole und Abkürzungen verwendet werden.
Internationale Standards und gesetzliche Rahmenbedingungen in Deutschland werden in Modul 6 ausführlicher behandelt.
Meldepflicht
Spricht ein Opfer davon, dass es Gewalt erlebt oder verübt hat, und glaubt man, dass man einen berechtigten Grund zu der Annahme hat, dass einem Kind erheblicher Schaden droht, muss dies dem Jugendamt unverzüglich gemeldet werden. Denn dann könnte eine Kindeswohlgefährdung vorliegen. Kinder, die häuslicher Gewalt ausgesetzt sind, können schwerwiegende psychische Folgen davontragen. In manchen Fällen wird man der Meinung sein, dass einem Kind erheblicher Schaden zugefügt wird, auch wenn es unwahrscheinlich erscheint, dass die gewalttätige Person das Kind in ihrem Haus selbst körperlich verletzen würde. Man sollte sein professionelles Urteilsvermögen über die individuellen Umstände und die Art der Gewalt nutzen, um eine Entscheidung zu treffen, ob eine Meldepflicht vorliegt oder nicht.
Es ist verboten und bricht die ärztliche Schweigepflicht, Gewalt gegenüber Erwachsenen zu melden oder Informationen an die Polizei weiterzugeben. Neben den rechtlichen Konsequenzen könnte das Melden von Gewalt, ohne die Zustimmung der erwachsenen Opfer, sie einem größeren Schadensrisiko aussetzen.
Man ist verpflichtet, eine Eigen- oder Fremdgefährdung des eigenen Patienten zu melden. Wenn man also befürchtet, dass der Patient oder die Patientin sich oder anderen unmittelbar das Leben nehmen wird, ist man verpflichtet, dies der Polizei und/oder Feuerwehr zu melden. In diesen Situationen steht der Schutz des Menschenlebens über der ärztlichen Schweigepflicht.
Fortlaufende Betreuung
Die Sicherheit des Opfers ist als vorrangige Frage zu betrachten. Man kann helfen, die Sicherheit zu überwachen, indem man nach einer früheren Eskalation von Gewalt oder körperlichen Schäden des Patienten oder der Patientin auch bei späteren Terminen nach aktueller Gewalt fragt.
Man sollte sich mit den entsprechenden Überweisungsdiensten und deren Verfahren vertraut machen. Die Opfer brauchen Hilfe, um Hilfe zu suchen. Es sollten Informationen bereitgehalten werden, die der Patient bzw. die Patientin gegebenenfalls mitnehmen kann.
In Modul 7 finden Sie weitere Informationen zur interorganisationalen Zusammenarbeit und Risikoanalyse bei Fällen häuslicher Gewalt in multiprofessionellen Teams.
Gut zu wissen: Die bundesweite Initiative „Stärker als Gewalt“ des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ) informiert darüber, wie man Signale richtig deuten, Betroffene verstehen und das Gespräch suchen kann.