Lehrmaterialien für Modul 2 (Sozialer Sektor)

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Fallstudien
Fallstudie: Kinder in Haushalten mit häuslicher Gewalt sind stark gefährdet

In diesem Fall geht es um Daniel, einen vierjährigen Jungen und seine Mutter, Frau Luscak, 27 Jahre alt. Sie ist alkoholabhängig und war gegenüber ihren früheren Partnern gelegentlich gewalttätig. Sie spricht kaum Deutsch. Daniel hat zwei Geschwister, eine siebenjährige Schwester Anna vom ersten Partner der Mutter und einen einjährigen Bruder Adam vom derzeitigen Partner der Mutter, Herrn A. Die Polizei wurde bereits 27-mal auf Grund von Vorfällen von häuslicher Gewalt gerufen, die oft dadurch eskalierten, dass beide Elternteile betrunken waren. Bei zwei Gelegenheiten nahm Daniels Mutter eine Schlafmittelüberdosis in der Absicht Selbstmord zu begehen. Die Familie zog mehrmals um, weil sie die Miete nicht mehr bezahlen konnte. Als sie mit Adam schwanger war, drängte Herr A. Frau Luscak zu einem Schwangerschaftsabbruch. Sie versäumte vier Schwangerschaftsvorsorgeuntersuchungen. Einmal wurde sie auf Grund von Verletzungen ins Krankenhaus eingeliefert, wo Herr A. die Infusion entfernte und sie sich selbst auf eigene Gefahr entließ.

Als Daniel in der Notaufnahme vorstellig wurde, hatte er eine Spiralfraktur am linken Arm, die er sich angeblich bei einem Sprung vom Sofa mit seiner Schwester am Vortag zugezogen hatte. Prellungen an der Schulter und am Unterbauch wurden von seiner Mutter damit erklärt, dass er regelmäßig vom Fahrrad fiel. Es fanden zwar Treffen mit Fachkräften des Gesundheitswesens statt, aber die lange Vorgeschichte häuslicher Gewalt wurde nicht berücksichtigt. Als Daniel eingeschult wurde, fehlte er, wie seine Schwester Anna, häufig. Die Lehrer:innen machten sich Sorgen, weil Daniel immer dünner wurde und immer hungrig zu sein schien und sich das Essen anderer Kinder nahm. Daniel hatte schlechte Deutschkenntnisse. Er war ein sehr unauffälliger, schüchterner und zurückhaltender Junge und sprach nicht mit den Lehrer:innen.

Aufgaben zum Weiterdenken

(1) Denken Sie über die zahlreichen Indikatoren und Warnsignale („red flags“) in Daniels Fall nach. Was waren die Frühindikatoren für möglichen Missbrauch und wie hätten sie früher erkannt werden können?

(2) Welche Möglichkeiten des Eingreifens und der Unterstützung durch medizinisches Fachpersonal wurden verpasst? Wie hätte man es besser machen können?

Fall adaptiert nach The Medical Women’s International Association’s Interactive Violence Manual

Fallstudie: Häusliche Gewalt schadet auch Kindern

Gabby heiratete nach einer langen Beziehung ihren Ehemann Nick und zog kurz darauf auf den Bauernhof ihres Mannes um. Das Paar war auf dem Bauernhof glücklich und bekam bald sein erstes Kind. Während der Schwangerschaft begann sich Nicks Verhalten zu ändern, und als die Tochter der beiden geboren wurde, „fühlte“ sich die Beziehung nicht mehr an wie zuvor. Nick wirkte zurückgezogen und verbrachte viel Zeit allein. Er begann, Gabby an Nicks Vater zu erinnern, der Nick gegenüber immer sehr streng gewesen war.

Nicks Verhalten wurde bedrohlich und kontrollierend, insbesondere in Bezug auf Geld und soziale Kontakte. Er wurde bei Auseinandersetzungen zunehmend aggressiv, schrie oft und warf Gegenstände durch den Raum. Gabby dachte, da er sie nicht körperlich verletze, stelle sein Verhalten keinen Missbrauch dar. Nick zeigte kein großes Interesse an der Tochter Jane – außer in der Öffentlichkeit, wo er ein vernarrter und liebevoller Vater zu sein schien.

Jane war im Allgemeinen ein wohlerzogenes Kind, aber Gabby stellte fest, dass sie sie nicht bei jemand anderem lassen konnte. Jane weinte und verzweifelte sichtlich, wenn Gabby sie jemand anderem übergab. Das war für Gabby belastend und bedeutete auch, dass ihre sozialen Aktivitäten weiter eingeschränkt wurden.

Jane brauchte lange Zeit, um zu krabbeln, zu gehen und zu sprechen. Ihr Schlafmuster war unregelmäßig, und Gabby schlief nachts oft nicht durch, selbst als Jane über 12 Monate alt war. Als Jane zu sprechen begann, entwickelte sie ein Stottern, das ihre Sprachentwicklung weiter behinderte. Gabby machte sich große Sorgen um Jane. Ihr Hausarzt sagte ihr, dass das vorkommen könne und normal sei und dass sie, wenn die Sprachprobleme fortbestünden, Jane jederzeit zu einem späteren Zeitpunkt zu einem Spezialisten schicken könne.

Nach einigen Jahren wurde Nicks Verhalten für Gabby inakzeptabel. Während der Auseinandersetzungen nahm er nun oft das Gewehr, das er für die Jagd gekauft hatte, in die Hand. Gabby empfand dies als sehr bedrohlich. Bei einer Reihe von Gelegenheiten wurde Gabby von Gegenständen, die Nick warf, getroffen, und sie hatte zunehmend Angst um ihre Tochter. Gabby beschloss, das Haus zu verlassen, und wandte sich an die örtliche Frauenberatungsstelle, die ihr half, ein Annäherungsverbot gegen Nick zu erwirken.

Nachdem Jane keinen Kontakt mehr zu Nick hatte, änderte sich ihr Verhalten. Janes Entwicklung schien sich zu beschleunigen, und Gabby konnte zuerst nicht verstehen warum. Im Rahmen ihrer Beratung bei einer örtlichen Beratungsstelle erörterte sie dieses Thema, und ihre Beraterin erklärte ihr, dass die Entwicklungsverzögerung, das Stottern, die Irritation und die Trennungsangst bei Jane daher gerührt hätten, dass sie in einer missbräuchlichen Situation gelebt habe.

Aufgaben zur weiteren Reflektion

(1) Welche Formen von häuslicher Gewalt liegen vor?
(2) Welche Indikatoren für häusliche Gewalt sind im Fallbeispiel zu erkennen?
(3) Wie schätzen Sie das Risiko für Gabby und ihre Tochter ein?

Zum breiten Spektrum von Fachleuten, Diensten und Fachstellen, die möglicherweise an der Unterstützung von Opfern häuslicher Gewalt beteiligt sind, gehören – ohne darauf beschränkt zu sein – Dienste der primären und sekundären Gesundheitsfürsorge, der psychischen Gesundheitsfürsorge, der Dienste für sexuelle Gewalt, der Sozialfürsorge, der Strafverfolgungsbehörden, der Polizei, der Bewährungshilfe, der Jugendgerichtsbarkeit, des Substanzmissbrauchs, spezialisierter Agenturen für häusliche Gewalt, Kinderdienste, Wohnungsdienste und Bildung. Die untere Flowchart illustriert die Zusammenarbeit all dieser Dienste im Kontext häuslicher Gewalt.



Adaptiert nach einer Fallstudie aus RACGP (2014): Abuse and Violence: Working with our patients in general practice


Weitere Lehrmaterialien

Quiz: Auswirkungen von häuslicher Gewalt