Modul 3: Kommunikation mit Opfern in Fällen häuslicher Gewalt

Ersthilfe

Nach der Identifizierung von häuslicher Gewalt müssen weitere Maßnahmen ergriffen werden:

  • Dokumentation der Verletzungen und des Gewaltberichts des Opfers für rechtliche Zwecke,
  • Sicherstellung der unmittelbaren Sicherheit des Opfers und Einschätzung des Risikos eines ernsthaften/tödlichen erneuten Missbrauchs,
  • Überweisung des Opfers zu weiteren Interventionen oder Information des Patienten bzw. der Patientin über verfügbare Dienste.

Häufig ist diese Ersthilfe die wichtigste Unterstützung, die man leisten kann. Selbst wenn dies alles ist, was man tun kann, hat man dem Opfer sehr geholfen.

Man sollte daran denken: Dies könnte die einzige Gelegenheit sein, dem Opfer zu helfen.

  • Identifizierung der Bedürfnisse und Anliegen des Opfers
  • Zuhören und Überprüfen der Bedenken und Erfahrungen des Opfers
  • Hilfe, sich mit anderen verbunden, ruhig und hoffnungsvoll zu fühlen
  • Befähigung zur Selbsthilfe und zur Bitte um Hilfe
  • Erörterung der Optionen des Opfers
  • Achtung der Wünsche des Opfers
  • Hilfe bei der Suche nach sozialer, physischer und emotionaler Unterstützung
  • Verbesserung der Sicherheit des Opfers

Das kann und muss man nicht tun:

  • ihre Probleme lösen,
  • sie überzeugen, eine gewalttätige Beziehung zu verlassen,
  • sie überzeugen, sich an andere Stellen zu wenden, z. B. an die Polizei oder die Gerichte,
  • detaillierte Fragen stellen, die sie dazu zwingen, schmerzliche Ereignisse noch einmal zu durchleben,
  • sie bitten, zu analysieren, was passiert ist oder warum,
  • sie zu drängen, ihre Gefühle und Reaktionen auf ein Ereignis mitzuteilen.

Diese Aktionen könnten mehr schaden als nutzen.


Zum Nachdenken für medizinisches Fachpersonal

Die Vorbereitung, häusliche Gewalt zu erkennen und darauf zu reagieren, ist von größter Bedeutung.
(1) Wie gut fühlen Sie sich in dieser Hinsicht vorbereitet? Welche Bildungs- und/oder Ausbildungsressourcen stehen Ihnen zur Verfügung oder sind Ihnen in Ihrem Tätigkeitsbereich bekannt?
(2) Haben Sie in Ihrem klinischen Bereich einen Raum, in dem Sie privat mit Patienten und Patientinnen sprechen können? (Hinter Vorhängen oder Schirmen ist eindeutig nicht privat oder vertraulich.)
(3) Wie könnten Ihnen Patienten und Patientinnen in Ihrem Tätigkeitsbereich mitteilen, dass sie mit Ihnen unter vier Augen sprechen möchten?
(4) Verfügen Sie derzeit über einen klaren Überweisungsweg für Patienten und Patientinnen zu anderen Diensten und Unterstützungen?
(5) Wissen Sie, welche Dienstleistungen und Unterstützungen für diejenigen zur Verfügung stehen, die in Ihrem Tätigkeitsbereich, Ihrer Organisation und Ihrer Region häusliche Gewalt offenlegen – und welche Kontaktdaten stehen Ihnen zur Verfügung?
(6) Wissen Sie, wie Sie eine Überweisung an die Schutzdienste für Erwachsene und Kinder vornehmen können?


Häufig auftretende Fragen und Antworten

Hier finden Sie Antworten auf einige Fragen, die man zur Arbeit mit Opfern häuslicher Gewalt im medizinischen Sektor stellen kann.

„Warum sollten keine Ratschläge gegeben werden?“

Für Opfer häuslicher Gewalt ist es wichtig, dass man ihnen zuhört und dass sie die Möglichkeit haben, ihre Geschichte einer einfühlsamen Person zu erzählen. Die meisten Opfer wollen nicht gesagt bekommen, was sie tun sollen. Sie werden in der kurzen Zeit auf keine Idee kommen, die das Opfer in den letzten Monaten nicht auch schon gehabt hätte. Tatsächlich sind gutes Zuhören und eine einfühlsame Reaktion viel hilfreicher, als man denkt. Es ist vielleicht das Wichtigste, was man tun kann. Die Opfer müssen ihren eigenen Weg finden und zu ihren eigenen Entscheidungen kommen. Darüber zu sprechen, kann ihnen dabei helfen.

„Warum verlassen sie ihn bzw. sie nicht einfach?“

Es gibt viele Gründe, warum Opfer in gewalttätigen Beziehungen bleiben. Es ist wichtig, sie nicht zu verurteilen und nicht zu drängen, ihren Partner bzw. ihre Partnerin oder die Familie zu verlassen. Diese Entscheidung müssen sie in ihrem eigenen Tempo treffen.

„Wie haben sie sich in diese Situation gebracht?“

Es ist wichtig, die Schuld für das Geschehene nicht dem Opfer zuzuschieben. Dem Opfer die Schuld zu geben, ist hinderlich dabei, sich gut um es zu kümmern. Gewalt ist in keiner Situation angebracht. Es gibt keine Entschuldigung oder Rechtfertigung für Gewalt oder Missbrauch. Nur weil ein Opfer etwas getan hat, das seinen bzw. ihren Partner oder seine bzw. ihre Partnerin oder jemand anderen wütend gemacht hat, heißt das nicht, dass er bzw. sie es verdient hätte, verletzt zu werden.

„Was kann ich tun, wenn ich wenige Ressourcen und kaum Zeit habe?“

Es dauert nicht unbedingt lange und erfordert keine zusätzlichen Ressourcen. Ein Satz reicht manchmal aus, um das Opfer wissen zu lassen, dass es nicht allein ist, dass Gewalt nie eine Option ist und dass es Hilfe bekommen kann, wenn es will. Man kann sich auch über Ressourcen im Gesundheitssystem und in der Gemeinde informieren, die ihnen helfen können.

„So wurde es uns nicht beigebracht.“

Medizinischem Personal wird im Allgemeinen beigebracht, dass ihre Hauptaufgabe darin besteht, das medizinische Problem zu diagnostizieren und zu behandeln. In dieser Situation ist es jedoch nicht hilfreich, den Fokus auf rein körperliche Belange zu beschränken. Stattdessen muss man einen menschlichen Fokus hinzufügen, indem man zuhört, Bedürfnisse und Sorgen des Opfers identifiziert, die soziale Unterstützung stärkt und ihre Sicherheit erhöht. Außerdem kann man den Opfern helfen, ihre Optionen zu erkennen und zu überdenken und ihnen das Gefühl zu vermitteln, dass sie die Kraft haben, wichtige Entscheidungen selbst zu treffen und durchzuführen.

„Was, wenn sie beschließen, sich nicht bei der Polizei zu melden?“

Ihre Entscheidung sollte respektiert werden. Man lässt sie wissen, dass sie ihre Meinung ändern können und dass es jemanden gibt, mit dem sie weiter über ihre Optionen sprechen können. Man sollte ihnen bei der Erstellung des Berichts helfen, wenn sie sich dafür entscheiden.

„Was ist, wenn sie anfangen zu weinen?“

Man gibt ihnen Zeit dafür. Man kann sagen: „Ich weiß, es ist schwierig, darüber zu sprechen. Sie können sich Zeit nehmen.“

„Was ist, wenn man Gewalt vermutet, sie aber nicht bestätigt wird?“

Man sollte nicht versuchen, Opfer zur Offenlegung zu zwingen. (Der Verdacht könnte falsch sein.) Man kann immer noch Betreuung und weitere Hilfe anbieten.

„Was ist, wenn sie wollen, dass ich mit ihrem Partner bzw. ihrer Partnerin spreche?“

Es ist keine gute Idee, diese Verantwortung zu übernehmen. Wenn das Opfer sich jedoch sicher fühlt und die Gewalt dadurch nicht noch schlimmer wird, kann es hilfreich sein, wenn jemand, den das Opfer respektiert, mit ihm bzw. ihr spricht – vielleicht ein Familienmitglied, ein Freund oder ein religiöses Oberhaupt. Sie sollten davor gewarnt werden, dass dies, wenn es nicht vorsichtig geschieht, zu mehr Gewalt führen könnte.

„Was, wenn der Partner bzw. die Partnerin oder ein anderes gewalttätiges Familienmitglied auch ein Patient bzw. Patientin ist?“

Es ist sehr schwer, beide Parteien weiterhin zu sehen, wenn es in der Beziehung zu Gewalt und Missbrauch kommt. Die beste Praxis besteht darin, zu versuchen, einen Kollegen bzw. eine Kollegin dazu zu bringen, einen von beiden zu behandeln, während gleichzeitig sichergestellt wird, dass die Vertraulichkeit der Offenbarung des Opfers gewahrt bleibt. Es sollte keine Paarberatung angeboten werden.

„Was ist, wenn ich glaube, dass der Partner bzw. die Partnerin ihn bzw. sie wahrscheinlich umbringen wird?“
  • Man sollte dem Opfer die eigenen Bedenken ehrlich mitteilen und erklären, warum man der Meinung ist, dass es ernsthaft gefährdet sein könnte. Man erklärt, dass man mit ihm bzw. ihr die möglichen Optionen für seine bzw. ihre Sicherheit besprechen möchte. In dieser Situation ist es besonders wichtig, sichere Alternativen zu finden und anzubieten, wohin sie gehen können.
  • Entsprechend der deutschen Rechtslage ist man verpflichtet, Selbst- und Fremdgefährdungen bei der Polizei anzuzeigen. Die vermutete Gewalt durch eine dritte Person allerdings nicht!
  • Man sollte fragen, ob es eine Vertrauensperson gibt, die man in die Diskussion einbeziehen und auf das Risiko aufmerksam machen könnte.
„Was ist, wenn ich nicht mit dem umgehen kann, was ich höre?“
  • Die eigenen Bedürfnisse sind genauso wichtig wie die des Opfers, für das man sorgt. Es kann sein, dass man starke Reaktionen oder Emotionen hat, wenn man Opfern zuhört oder mit ihnen über Gewalt spricht. Dies gilt insbesondere dann, wenn man selbst Missbrauch oder Gewalt erlebt hat – oder gerade erlebt.
  • Man sollte sicherstellen, dass man die Hilfe und Unterstützung erhält, die man für sich selbst benötigt.

Was man tun sollte

Geduldig und ruhig sein.

Das Opfer wissen lassen, dass man zuhört; man nickt mit dem Kopf oder sagt „hmm …“.

Validieren, wie das Opfer sich fühlt.

Das Opfer seine bzw. ihre Geschichte in seinem bzw. ihrem eigenen Tempo erzählen lassen.

Dem Opfer die Möglichkeit geben, zu sagen, was es will. Man fragt: „Wie kann ich Ihnen helfen?“

Das Opfer dazu ermutigen, weiterzureden, wenn es das wünscht. Man fragt: „Möchten Sie mir mehr erzählen?“

Stille erlauben. Dem Opfer Zeit zum Nachdenken geben.

Sich auf die Erfahrung des Opfers konzentrieren und darauf, ihm bzw. ihr Unterstützung anzubieten.

Anerkennen, was das Opfer will und seine bzw. ihre Wünsche respektieren.


Was man nicht tun sollte

Das Opfer dazu drängen, seine bzw. ihre Geschichte zu erzählen.

Auf die Uhr oder auf einen Computer schauen, zu schnell sprechen, ans Telefon gehen.

Beurteilen, was das Opfer getan oder nicht getan hat oder wie es sich fühlt. Man sollte nicht sagen: „Du solltest dich nicht so fühlen“, oder „Du solltest dich glücklich schätzen, dass du überlebt hast“, oder „Du Arme/r“.

Das Opfer drängen.

Davon ausgehen, dass man weiß, was das Beste für das Opfer ist.

Das Opfer unterbrechen. Man sollte warten, bis es fertig ist, bevor man Fragen stellt.

Versuchen, die Gedanken für das Opfer zu beenden.

Dem Opfer die Geschichte eines anderen erzählen oder über die eigenen Probleme sprechen.

So denken und handeln, als ob man die Probleme für das Opfer lösen müsste.




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Häusliche Gewalt in den Medien

Häusliche Gewalt ist in den Nachrichten, in Zeitungsartikeln und im Internet präsent. Bücher, Filme und Serien (z. B. „Der Feind in meinem Bett“, „Fifty Shades of Grey“, „365 days“), Dokumentationen und Reportagen sowie Songtexte greifen das Thema auf. In den meisten Fällen zielen sie allerdings nicht darauf ab, über häusliche Gewalt zu informieren, sondern die Konsumenten und Konsumentinnen zu unterhalten und zu polarisieren.

Häusliche Gewalt wird dabei häufig verharmlost oder romantisiert. Stalking, körperliche Gewalt und Freiheitsberaubung werden als Zeichen wahrer Liebe und gerechtfertigter Eifersucht dargestellt. Die Täter sind fast ausschließlich Männer – die Schuld für die erfahrene Gewalt liegt beim weiblichen Opfer.

Romantische Filme folgen oft der Logik von „Die Schöne und das Biest“, wo „gute“ Frauen „böse“ Männer durch ihre Liebe retten können. Es mag zwar einige Hinweise darauf geben, dass sich Männer in Gegenwart von Frauen besser benehmen, aber in missbräuchlichen Beziehungen trifft dies nicht zu. Stattdessen sind Frauen im Kreis der Gewalt gefangen. Das heißt, es kommt zu einem gewalttätigen Vorfall, danach fühlt sich der Täter schuldig, entschuldigt sich und verspricht, dies in Zukunft nicht mehr zu tun. Es folgt die „Flitterwochenphase“, in der der Täter liebevoll und fürsorglich erscheint. Nach einiger Zeit wird der Täter immer aggressiver gegenüber dem Opfer, bis ein neuer „großer“ Vorfall häuslicher Gewalt geschieht und der Kreislauf wieder von vorne beginnt. Diese Teufelskreise halten Frauen in Missbrauchsbeziehungen gefangen – zum Teil, weil sie fälschlicherweise hoffen, dass sich der Täter bessern wird, und es nicht wieder vorkommt.

Die Folgen sind für die Opfer und die öffentliche Wahrnehmung von häuslicher Gewalt gravierend.


„Gerade weil häusliche Gewalt so kontraintuitiv ist, müssen die Medien diese Geschichten weitererzählen. Wir Journalisten brauchen jedoch eine Ausbildung, damit wir nicht weiterhin die üblichen Fehler machen. Wir können nicht akzeptieren, dass Journalisten das Verhalten einer Frau untersuchen, um zu erklären, warum sie ermordet oder verletzt wurde. Wir können nicht akzeptieren, dass Journalisten Entschuldigungen für Männer finden, die ihre Familien getötet haben, als ob sie unter Druck gesetzt worden wären, dies zu tun.“ (Adaptiert nach: CIG (Comissão para a Cidadania e Igualdade de Género – Commission for Citizenship and Gender Equality) (2019): Guide to good media practice in preventing and combating VAW and DV)

Jess Hill, Journalistin von The Guardian

Wie die Medien mit Fällen häuslicher Gewalt umgehen, ist entscheidend dafür, wie diese von der Öffentlichkeit verstanden und interpretiert wird:

  • die Häufigkeit, mit der über häusliche Gewalt berichtet wird,
  • die Informationen, die in den Berichten über häusliche Gewalt enthalten sind oder weggelassen werden,
  • die Worte, mit denen beschrieben wird, was passiert ist.

All diese Faktoren machen einen Unterschied im gesellschaftlichen Verständnis von häuslicher Gewalt aus.

Die Rolle der Medien im Bereich häuslicher Gewalt ist entscheidend.

  • Nicht nur, weil sie Verbrechen sichtbar macht, die heute noch oft fälschlicherweise der Privat- und Beziehungssphäre zugerechnet werden,
  • sondern auch, weil sie die Möglichkeiten der Reaktion und des Aufbaus einer gerechteren, sichereren und aufmerksameren Gesellschaft beeinflusst.

Gute journalistische Praxis sollte sein, dass Leser und Leserinnen nach einem Artikel oder einem Film über häusliche Gewalt sensibilisiert werden und dadurch

– Anzeichen von Gewalt besser erkennen, wenn sie ihnen begegnen,
– über ein besseres Wissen verfügen, was dann zu tun ist,
– und die Dynamik der Eskalation des Missbrauchs besser verstehen und wissen, wie sie ihn verhindern können.


Adaptiert nach: CIG (Comissão para a Cidadania e Igualdade de Género – Commission for Citizenship and Gender Equality) (2019): Guide to good media practice in preventing and combating VAW and DV


Wie stellt man häusliche Gewalt dar?

Hier finden Sie ein Factsheet für Filmemacher und Filmemacherinnen, Produzenten und Produzentinnen, Drehbuchautoren und Drehbuchautorinnen sowie Regisseure und Regisseurinnen zur Darstellung von häuslicher Gewalt im Fernsehen und in Filmen. Es enthält zudem Interviews mit zwei Filmemachern, die ihre Ansichten zu diesem Thema darlegen.


Niedrigschwelliges Angebot: Anbieten von Informationsblättern

Schriftliche Informationen über Gewalt in Paarbeziehungen und häusliche Gewalt sollten in Form von Plakaten, Broschüren oder Faltblättern verfügbar sein, die in privaten Bereichen wie Waschräumen zur Verfügung gestellt werden (mit entsprechenden Warnungen, sie nicht mit nach Hause zu nehmen, wenn sich dort der Täter oder die Täterin aufhält). Das Anbieten eines QR-Codes, der zu einer Website mit weiteren Informationen führt, kann hier Abhilfe schaffen. Die Plakate, Broschüren oder Faltblätter sollten sich an weibliche und männliche Opfer häuslicher Gewalt richten und keine Stereotype bedienen. Die Benennung konkreter Ansprechpartner und Ansprechpartnerinnen vor Ort und die Breitstellung von Telefonnummern von Beratungsstellen oder Internetseiten, die (anonyme) Beratung anbieten, können einen Beitrag dazu leisten, dass sich Opfer häuslicher Gewalt Hilfe suchen.