Modul 2: Indikatoren für häusliche Gewalt

1. Anzeichen für „ungesunde“ Beziehungen
2. Auswirkungen von häuslicher Gewalt
3. Exkurs: Außenstehende als Zeug:innen von häuslicher Gewalt
4. Allgemeine Indikatoren für häusliche Gewalt bei Erwachsenen
Quellen

Einleitung
Willkommen zu Modul 2:Indikatoren für häusliche Gewalt“. In diesem Modul werden Sie mehr über die weitreichenden gesundheitlichen Folgen von häuslicher Gewalt erfahren. Anhand von verhaltens-, physischen und emotionalen Indikatoren lernen Sie, wie man Betroffene von häuslicher Gewalt identifiziert und was sogenannte „red flags“ darstellt. Darüber hinaus wird die Rolle von Personen, die häusliche Gewalt beobachten, in einem Exkurs vorgestellt.

Lernziele
+ Verstehen der vielfältigen Folgen von häuslicher Gewalt für Betroffene, Familien und dem sozialen Umfeld, einschließlich der physischen, psychologischen und sozialen Auswirkungen.
+ Erwerben von Fähigkeiten, potenzielle „Warnsignale“ anhand von Verhaltensweisen, körperlichen und emotionalen Indikatoren zu erkennen.
+ Erkennen der emotionalen und psychologischen Auswirkungen von häuslicher Gewalt, insbesondere auf Kinder, und Verstehen, wie wichtig die Schaffung eines sicheren Umfelds für alle Familienmitglieder ist.


1. Anzeichen für „ungesunde“ Beziehungen

Manche Beziehungen können sich negativ auf unser allgemeines Wohlbefinden auswirken, anstatt es zu verbessern. Einige können sogar ein toxisches Niveau erreichen. Daher ist es wichtig, Warnzeichen zu erkennen um frühzeitig handeln zu können.

Diese Warnzeichen, die oft als Warnsignale oder „red flags“ bezeichnet werden, dienen als Indikatoren für „ungesundes“ oder manipulatives Verhalten. Sie sind nicht immer auf den ersten Blick erkennbar – und das macht sie so gefährlich.

Toxizität kann in allen Formen in engen Beziehungen auftreten, z. B. zwischen Freunden, am Arbeitsplatz mit Kolleg:innen, zwischen Familienmitgliedern oder in Liebesbeziehungen.1


2. Auswirkungen von häuslicher Gewalt

“Das Erleben von Gewalt oder Missbrauch durch einen Intimpartner erhöht das Risiko, eine psychische Störung zu entwickeln, um das fast Dreifache und das Risiko eine chronische körperliche Krankheit zu entwickeln, um fast das Doppelte.“

Mellar BM, Hashemi L, Selak V, Gulliver PJ, McIntosh TK, Fanslow JL (2023) 2

Menschen sind unterschiedlich.  Die individuellen sowie kumulativen Auswirkungen jeder Gewalttat hängen von vielen komplexen Faktoren ab. Obwohl jede Person häusliche Gewalt anders erlebt, gibt es viele gemeinsame Folgen solcher Erfahrungen. Oft sind die kurz- und langfristigen physischen, emotionalen, psychologischen, finanziellen und anderen Auswirkungen von Betroffenen ähnlich.

Es ist wichtig zu wissen, wie sich häuslicher Gewalt auf die betroffenen Personen auswirken kann. So können Indikatoren eindeutiger wahrgenommen und erkannt werden.

Bitte beachten Sie, dass die folgende Auflistung von möglichen Indikatoren keinen Anspruch auf Vollständigkeit erheben; sie stellen lediglich eine Auswahl dar.


Auswirkungen von häuslicher Gewalt auf Kinder

Jedes Kind hat ein Recht darauf, ohne Gewalt groß zu werden

Convention on the rights of the child (1989)3

„Kennst du das auch?“

Kinder und Jugendliche berichten von zu Hause und erzählen, wie sie dort häusliche Gewalt erleben. Hier geht’s zu den Geschichten.4


Dieses Video zeigt, wie sich Traumata (z. B. häuslicher Gewalt) auf die Gehirnentwicklung und das Verhalten von Kindern (sowohl innerhalb als auch außerhalb der Familie) auswirkt.

Untertitel aktivieren: Klicken Sie während des Abspielens im Bildschirmbereich unten auf das Untertitel-Symbol (kleines Viereck mit Strichen). Der Untertitel wird direkt eingeblendet. Um die Untertitelsprache zu ändern, klicken Sie auf das Zahnrad daneben und wählen unter „Untertitel“ die gewünschte Sprache aus.
Hier gehts zu einem Erklärvideo.

“Die Art und Weise, wie man sich an Missbrauch und/oder Vernachlässigung aus der Kindheit erinnert und diese verarbeitet, hat einen größeren Einfluss auf die spätere psychische Gesundheit, als die Erfahrung selbst.”

nach Danese A., Widom CS. (2023)5

Das folgende Video zeigt, wie traumatische Erlebnisse in der Kindheit das spätere Leben beeinflussen und es zu Bindungsstörungen kommen kann.

„Menschen, die in ihrer Kindheit herausfordernde oder traumatische Erfahrungen gemacht haben, weisen im Alter mit größerer Wahrscheinlichkeit sowohl körperliche als auch kognitive Beeinträchtigungen auf.“6 In der folgenden Tabelle finden Sie weitere Beispiele für die kurz- und langfristigen Auswirkungen von häuslicher Gewalt auf ein Kind, das häusliche Gewalt erlebt oder miterlebt hat:

Quellen: 7, 8, 9, 10, 11, 12

  • Kinder, die Gewalt erlebt und psychische Probleme haben (z. B. psychosomatische Symptome, Depressionen oder Selbstmordgedanken), haben ein höheres Risiko für Drogenmissbrauch, Schwangerschaften in der Jugend und kriminelles Verhalten.13
  • Durch ständiges beobachten/erfahren von Gewalt können Kinder „lernen“, dass es akzeptabel ist, Kontrolle auszuüben, Stress durch Gewalt abzubauen oder dass Gewalt mit dem Ausdruck von Intimität und Zuneigung verbunden zu sein scheint. Dies kann sich in sozialen Situationen und in Beziehungen während der gesamten Kindheit und im späteren Leben sehr negativ auf Kinder auswirken.
  • Kinder müssen möglicherweise auch mit vorübergehender Obdachlosigkeit, Orts- und Schulwechsel, dem Verlust von Freunden, Haustieren und persönlichen Gegenständen, anhaltenden Belästigungen durch den Täter/die Täterin und dem Stress neue Beziehungen einzugehen, fertig werden.


3. Exkurs: Außenstehende als Zeug:innen von häuslicher Gewalt

Bild von macrovector auf Freepik

Familienmitglieder, Nachbarn, Arbeitskolleg:innen oder Betreuende können Zeug:innen von häuslicher Gewalt werden. Wir alle müssen aufmerksam sein, wenn sich ein Mensch in unserem Umfeld verändert (z. B. zurückzieht oder von unerwünschten Nachrichten seines/ihres Ex-Partner:in erzählt). Häusliche Gewalt beginnt nicht erst, wenn der Körper von Verletzungen und blauen Flecken gezeichnet ist. Wichtig ist, niemals wegzuschauen! 

„Was würden Sie tun?“

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Aufgaben zum Weiterdenken

(1) Was sind die Warnsignale, die in diesem Video gezeigt werden und die darauf hinweisen, dass es sich um eine toxische Beziehung handelt, in der häusliche Gewalt vorliegt und jemand Hilfe braucht?

(2) Was würden Sie tun?

Die Zusammenarbeit und das Einverständnis der von häuslicher Gewalt betroffenen Personen sind die wichtigsten Voraussetzungen für eine Intervention als Zeug:in. Die Intervention kann Gespräche mit den Betroffenen, Hilfe beim Zugang zu Hilfsdiensten oder z. B. die Unterstützung bei der Anzeige von Gewalttaten bei der Polizei umfassen.

Faktoren, die eine Intervention von Zeug:innen hemmen oder fördern können:

Weitere Informationen zu den entscheidenden Faktoren für die Intervention von Zeug:innen bei häuslicher Gewalt finden Sie hier (auf Englisch).14 https://eige.europa.eu/gend


4. Allgemeine Indikatoren für häusliche Gewalt bei Erwachsenen

Experteninterview mit Michael Eichinger zu Modul 2: Auf welche Indikatoren soll bei einem Polizeieinsatz geachtet werden, um häusliche Gewalt zu identifizieren?

Es gibt eine ganze Reihe von Indikatoren, die als „Warnsignale“ dienen können und darauf hinweisen, dass eine Person von häuslicher Gewalt betroffen sein könnte. Einige von ihnen sind recht subtil. Daher ist es wichtig, dass Sie auf die möglichen Anzeichen achten und angemessen reagieren. Bitte beachten Sie, dass keines oder alle dieser Anzeichen auch auf andere Probleme hindeuten können. Manche von häuslicher Gewalt betroffene Personen machen auch Andeutungen und ihr Verhalten kann ebenfalls aufschlussreich sein. Ausführliche Informationen zur Kommunikation finden Sie in Modul 3.

Die von Gewalt betroffenen Personen sind darauf angewiesen, dass Sie zuhören, beharrlich bleiben und nach Anzeichen und Hinweisen schauen. Sie sind darauf angewiesen, dass sie Gespräche unter vier Augen weiterverfolgen, Einzelheiten zu Verhaltensweisen, Gefühlen und Verletzungen, die sie gesehen und gemeldet haben, aufzeichnen und sie im Einklang mit etablierten Vorgehensweisen ihrer Organisation unterstützen.

Personen mit unterschiedlichen kulturellen Hintergründen können ihre Symptome unterschiedlich äußern. Seien Sie sich Ihrer eigenen Perspektive, möglichen Vorurteilen und Stereotypen bewusst, wenn Sie mit einem potentiellen Betroffenen sprechen. Diese Faktoren können Ihre Einschätzung der Symptome beeinflussen. Weitere Informationen dazu in Modul 8.

Bitte beachten Sie, dass keine oder alle dieser Indikatoren vorhanden sein und auf (eine Vorgeschichte von) von häuslicher Gewalt hinweisen können. Diese Indikatoren dienen als Warnsignale und sollten für erhöhte Aufmerksamkeit sorgen.

Hier finden Sie eine Reihe möglicher Gesundheitsindikatoren, psychischer Indikatoren für Erwachsene und spezifische Indikatoren für gefährdete Gruppen für häusliche Gewalt.

Zur besseren Übersichtlichkeit sind die Indikatoren nach Farben geordnet: Gelb: Allgemeine Indikatoren; Grün: Verhaltensbezogene Indikatoren; Blau: Psychische Indikatoren.

Gesundheitliche Indikatoren
  • Chronische Beschwerden wie Kopfschmerzen; Schmerzen in Muskeln, Gelenken und Rücken
  • Schwierigkeiten beim Essen und Schlafen
  • Kardiologische Symptome ohne Anzeichen einer Herzerkrankung (Herzklopfen, arterielle Hypertonie, Myokardinfarkt ohne obstruktive Erkrankung)
Mögliche psychische Indikatoren
  • Emotionaler Stress, z. B. Angst, Unentschlossenheit, Verwirrung und Feindseligkeit
  • Selbstverletzungen oder Selbstmordversuche
  • Psychosomatische Beschwerden
  • Schlaf- und Essstörungen (z. B. Anorexie, Bulimie, Binge Eating)
  • (vorgeburtliche) Depressionen
  • Soziale Isolation/kein Zugang zu Verkehrsmitteln oder Geld
  • Unterwürfiges Verhalten/geringes Selbstwertgefühl
  • Angst vor Körperkontakt
  • Substanzmissbrauch
Mögliche verhaltensbezogene Indikatoren
  • Häufige Inanspruchnahme von medizinischen Behandlungen in verschiedenen Einrichtungen
  • Häufiger Wechsel von Ärzt:innen
  • Unverhältnismäßig lange Zeitspanne zwischen dem Auftreten der Verletzung und der Behandlung
  • Zögerliche Reaktion auf die Frage nach der Krankengeschichte
  • Leugnen, widersprüchliche Erklärungen über die Ursache der Verletzung
  • Überfürsorgliches Verhalten der Begleitperson, kontrollierendes Verhalten
  • Häufiges Fernbleiben von der Arbeit oder vom Studium
  • Ausweichendes oder schamhaftes Verhalten bei Verletzungen
  • Ängstliches Verhalten in Gegenwart des Partners bzw. der Partnerin oder von Familienmitgliedern
  • Nervöse Reaktionen auf Körperkontakt/schnelle und unerwartete Bewegungen
  • Schreckhaftes Verhalten
  • Extreme Abwehrreaktionen oder eine starke emotionale Reaktion auf bestimmte Fragen

Mögliche Indikatoren, die sich speziell auf die gefährdete Gruppe von älteren Menschen beziehen:

Mögliche Indikatoren für häusliche Gewalt gegen ältere Menschen
  • Mangel an grundlegender Hygiene
  • Nasse Windeln
  • Fehlende medizinische Hilfsmittel wie Gehhilfen, Zahnersatz
  • Dekubitus, Druckgeschwüre
  • Die Pflegeperson spricht über den älteren Menschen als wäre er/sie eine Last

Einige Personen fürchten möglicherweise, dass das Ansprechen von Suizid bei gefährdeten Personen einen Auslöser darstellen könnte. Häufig kann jedoch das offene Gespräch Ängste verringern und das Verständnis fördern. Wenn eine Person Selbstmordgedanken oder -pläne hat oder sich kürzlich selbstverletzt hat und sich in einer akuten Notlage oder Unruhe befindet, ist es wichtig, sie nicht allein zu lassen. Suchen Sie sofort Hilfe bei einem Spezialisten/einer Spezialistin oder einer medizinischen Notfalleinrichtung.


Quellen

  1. Liebe ohne Gewalt. Gewalt in Partnerschaften kann an 9 Warnzeichen erkannt werden. www.abuseisnotlove.com/de-de/signs ↩︎
  2. Mellar, B. M., Hashemi, L., Selak, V., Gulliver, P. J., McIntosh, T. K. D., & Fanslow, J. L. (2023). Association Between Women’s Exposure to Intimate Partner Violence and Self-reported Health Outcomes in New Zealand. JAMA network open, 6(3). doi.org/10.1001/jamanetworkopen.2023.1311 ↩︎
  3. United Nations (1989). Conventions of the Right of the Child. www.ohchr.org/en/instruments-mechanisms/instruments/convention-rights-child ↩︎
  4. BIG e.V. Gewalt ist nie OK! Häusliche Gewalt: Informationen und Hilfe für Kinder und Jugendliche. www.gewalt-ist-nie-ok.de/de/was-ist-zu-hause-los/welche-folgen-hat-haeusliche-gewalt-fuer-dich ↩︎
  5. Danese, A., Widom, C. S. (2023). Associations between Objective and Subjective Experiences of Childhood Maltreatment and the Course of Emotional Disorders in Adulthood. JAMA Psychiatry, 80, 1009-1016. doi: 10.1001/jamapsychiatry.2023.2140 ↩︎
  6. Stiles, M. (2003). Witnessing domestic violence: The effect on children. American family physician, 66, 2052, 2055-2056, 2058 passim ↩︎
  7. Lee, V. M., Hargrave, A. S., Lisha, N.E., & Huang, A. J. (2023). Adverse Childhood Experiences and Aging-Associated Functional Impairment in a National Sample of Older Community-Dwelling Adults. Journal of General Internal Medicine, 38, 3362-3371. doi.org/10.1007/s11606-023-08252-x ↩︎
  8. Stiles, M. (2003). Witnessing domestic violence: The effect on children. American family physician, 66, 2052, 2055-2056, 2058 passim ↩︎
  9. Moylan, C. A., Herrenkohl, T. I., Sousa, C., Tajima, E. A., Herrenkohl, R. C., & Russo, M. J. (2010). The Effects of Child Abuse and Exposure to Domestic Violence on Adolescent Internalizing and Externalizing Behavior Problems. Journal of Family Violence, 25(1), 53-63. doi:10.1007/s10896-009-9269-9 ↩︎
  10. Monnat, S. M., Chandler, R. F. (2015). Long Term Physical Health Consequences of Adverse Childhood Experiences. Sociological Quarterly, 56(4), 723-752. doi:10.1111/tsq.12107 ↩︎
  11. Vargas, L., Cataldo, J., & Dickson, S. (2005). Domestic Violence and Children. In G.R. Walz & R.K. Yep (Eds.): VISTAS: Compelling Perspectives on Counseling. Alexandria, VA. American Counseling Association, 67-69. ↩︎
  12. Anda, R. F., Felitti, V. J., Chapman, D. P., Croft, J. B., Williamson, D. F., Santelli, J., Dietz, P. M., & Marks, J. S. (2001). Abused Boys, Battered Mothers, and Male Involvement in Teen Pregnancy. Pediatrics, 107(2), 19-27. ↩︎
  13. Felitti, V. J., Anda, R. F., Nordenberg, D., Williamson, D. F., Spitz, A. M., Edwards, V., Koss, M. P., & Marks, J. S. (1998). Relationship of Childhood Abuse and Household Dysfunction to many of the Leading Causes of Deaths in Adults. The Adverse Childhood Experiences (ACE) Study. Adult Health Status to Childhood Abuse and Household Dysfunction. American Journal of Preventive Medicine, 14, 245-258. ↩︎
  14. European Institute for Gender Equality. Intimate partner violence and witness intervention (2024). www.eige.europa.eu/gender-based-violence/eiges-work-gender-based-violence/intimate-partner-violence-and-witness-intervention?lang=sl ↩︎