Modul 3: Kommunikation in Fällen häuslicher Gewalt (Österreich)

  1. Hindernisse beim Ansprechen häuslicher Gewalt
  2. Kommunikationsstrategien
  3. Exkurs – Verschiedene Formen der medizinischen Betreuung
  4. Screening-Fragen zu häuslicher Gewalt
  5. Reaktion auf das Ansprechen häuslicher Gewalt
  6. Fragen, die im Zusammenhang mit häuslicher Gewalt auftreten können
  7. Kommunikation im Gesundheitsteam
  8. Visuelle Kommunikation

    Im Blickpunkt: Gynäkologie/Geburtshilfe, Chirurgie und Pädiatrie
  9. Gynäkologie/Geburtshilfe
  10. Notaufnahme
  11. Pädiatrie

    Im Blickpunkt Zahnheilkunde
  12. Zahnheilkunde

    Quellen

Einleitung

Willkommen zu Modul 3 über „Kommunikation in Fällen von häuslicher Gewalt“. In diesem Modul befassen wir uns mit den wichtigsten Aspekten der Kommunikation beim Umgang mit häuslicher Gewalt. Das Verständnis der komplexen Zusammenhänge zwischen dem Ansprechen von häuslicher Gewalt und der Verwendung wirksamer Kommunikationsstrategien ist von entscheidender Bedeutung für eine gute Betreuung von Opfern.

Fachkräfte aus dem medizinischen Bereich finden in diesem Modul ausführliche Informationen, wie man mit Opfern respektvoll kommuniziert. Außerdem wird in den Spotlights ein besonderer Schwerpunkt auf Gynäkologie/Geburtshilfe, Notaufnahme (Chirurgie), Pädiatrie und Zahnmedizin gelegt.

Lernziele

+ Verstehen, welche bestehenden Barrieren im Gesundheitssystem Personen davon abhalten, über häusliche Gewalt zu sprechen.

+ Kommunikationsstrategien erlernen, die auf die spezifischen Herausforderungen von Fällen häuslicher Gewalt zugeschnitten sind.

+ Screening-Fragen kennenlernen.

+ Angemessen und einfühlsam reagieren, wenn häusliche Gewalt angesprochen wird, damit sich Opfer unterstützt und verstanden fühlen.

+ Verstehen und Anwenden von visuellen Kommunikationsmethoden, um die Kommunikation in Fällen häuslicher Gewalt zu verbessern.

+ Auf das Ansprechen häuslicher Gewalt richtig reagieren.


1. Hindernisse beim Ansprechen häuslicher Gewalt

Menschen, die häusliche Gewalt erleben, können auf verschiedene Herausforderungen stoßen, die es ihnen erschweren, offen über ihre Situation zu sprechen.

Bitte klicken Sie auf die Kreuze in den entsprechenden Kreisen unter den einzelnen Begriffen in der Abbildung, um weitere Informationen zu einigen gängigen Barrieren zu erhalten:

Bitte denken Sie daran: Opfer von häuslicher Gewalt haben verschiedene soziale, kulturelle, wirtschaftliche und religiöse Hintergründe sowie unterschiedliches Alter, Geschlecht und sexuelle Orientierung. Es kann sich auch um Menschen mit Behinderung handeln. Es ist wichtig zu verstehen, dass es KEIN „typisches Opfer“ gibt.

Auch wenn hier in einigen Beispielvideos eine Frau in einer heterosexuellen Beziehung als Opfer von häuslicher Gewalt dargestellt wird, lassen Sie sich bitte nicht täuschen. Auch wenn die Opfer häuslicher Gewalt weit überwiegend Frauen und die Täter:innen zu ca. 90 % Männer sind, können alle betroffen sein; insbesondere Kinder, aber auch Männer, trans und non-binäre Personen,  sowie Personen mit Behinderungen jeden Geschlechts. Das Gleiche gilt für Täter:innen. Für weitere Informationen zu Täter:innen (siehe Modul 1). Außerdem kann häusliche Gewalt zwischen gleichgeschlechtlichen Paaren, Eltern und Kindern, Geschwistern, Onkeln, Tanten, Cousins, Cousinen, Großeltern oder sogar Mitbewohner:innen auftreten.


2. Kommunikationsstrategien

Um eine respekt- und vertrauensvolle Kommunikation über die erlebte Gewalt zu fördern, sollten Sie sicherstellen, dass ein privater Raum ohne Begleitpersonen (Partner:in, Kinder, andere Familienmitglieder oder familienfremde Bezugspersonen) für ein ungestörtes Gespräch zur Verfügung steht. Im Allgemeinen ist es sinnvoll „Ich-Botschaften“ zu verwenden. Diese können gezielt eingesetzt werden, um Ambivalenzen von Opfern während eines Gesprächs zu vermindern.

Bitte klicken Sie in der Illustration auf die Kreuze in den entsprechenden Kreisen unter den einzelnen Begriffen, um weitere Informationen zu erhalten.


In der Regel begleiten die Täter:innen Opfer ins Krankenhaus oder in eine Praxis. Sie wollen nicht, dass die verletzten Personen mit dem medizinischen Personal alleine sind. Die Herausforderung besteht darin, die Patient:innen alleine zu sehen, ohne die Täter:innen wütend zu machen und dadurch das Risiko einer späteren Eskalation der Gewalt zu erhöhen.

Hier sind einige Vorschläge, wie dies erreicht werden kann:

  • Bitten Sie die Begleitperson, zusätzliche Papiere auszufüllen.
  • Erklären Sie der Begleitperson z. B. in der Notaufnahme, dass radiologische Untersuchungen notwendig sein können, bei denen ein hohes Risiko einer Röntgenexposition besteht, und dass sie aus Sicherheitsgründen nicht in den Untersuchungsraum gelassen werden kann.
  • Erklären Sie, dass die Krankenhauspolitik es nicht zulässt, Patient:innen während der Untersuchung zu begleiten. Das folgende Video ist ein gutes Beispiel dafür, wie man dies vermitteln kann:
Untertitel aktivieren: Klicken Sie während des Abspielens im Bildschirmbereich unten auf das Untertitel-Symbol (kleines Viereck mit Strichen). Der Untertitel wird direkt eingeblendet. Um die Untertitelsprache zu ändern, klicken Sie auf das Zahnrad daneben und wählen unter „Untertitel“ die gewünschte Sprache aus.
Hier geht es zu einem Erklärvideo.

Patient:innen geben in Gesprächen mit ihren Ärzt:innen oft Hinweise (direkte oder indirekte Kommentare) zu persönlichen Aspekten ihres Lebens oder ihren Gefühlen. Die Hinweise sollten aufgegriffen werden, denn sie bieten die Möglichkeit, durch Verständnis und Einfühlungsvermögen die therapeutische Zusammenarbeit zu vertiefen, die das Herzstück jeder klinischen Versorgung sein sollte.2

Empathisches Zuhören bedeutet, die Signale der Patient:innen zu erkennen und implizite Aufforderungen zum Antworten aufzugreifen. Diese Signale können z.B. darin bestehen, dass die emotionale Intensität einer Erzählung abnimmt, die Patient:innen tief seufzen oder das Gesprächsthema wechseln. In solchen Momenten ist es wichtig, darauf zu reagieren und gleichzeitig die medizinische Versorgung fortzusetzen. Durch verbale Rückmeldungen können Sie Empathie zeigen, indem Sie die Patient:innen ermutigen, mehr zu erzählen oder rückmelden, dass Sie zuhören und verstehen.3

Fallstudie: Ansprechen von häuslicher Gewalt in der medizinischen Praxis

Herr Kurz, ein 80-jähriger Witwer, suchte wegen Angstzuständen und Anzeichen einer Depression einen Arzt auf.

Dr. Müller: „Guten Morgen, Herr Kurz. Wie geht es Ihnen heute?“

Herr Kurz: „Ach, wissen Sie, nur die üblichen Wehwehchen, die mit dem Alter kommen. Nichts, worüber man sich Sorgen machen müsste.“

Dr. Müller: „Das verstehe ich. Aber ich bin hier, um Ihnen zu helfen, falls Sie irgendwelche Sorgen haben sollten. Haben Sie etwas auf dem Herzen, das Sie besprechen möchten?“

Herr Kurz: „Nun, Herr Doktor, es sind nicht nur die körperlichen Dinge. Ich fühle mich in letzter Zeit niedergeschlagen und ständig müde.“

Dr. Müller: „Es ist wichtig, dass Sie mir das gesagt haben Herr Kurz. Danke sehr. Lassen Sie uns darüber sprechen, was Ihnen gerade auf der Seele liegt. Gibt es neben den körperlichen Beschwerden irgendwelche Veränderungen in Ihrem Leben oder in Ihren Beziehungen, die sich auf Ihr Wohlbefinden auswirken könnten?“

Herr Kurz: (zögernd) „Es ist … nicht leicht, darüber zu sprechen. Aber es geht um Jessica, meine Betreuerin. Die Dinge laufen gerade nicht gut.“

Dr. Müller: „Es erfordert immer Mut, über schwierige Situationen zu sprechen. Können Sie mehr darüber erzählen, was nicht gut läuft?“

Herr Kurz: „Sie wird oft wütend und es fallen verletzende Worte. Ich habe das Gefühl, dass ich wie auf Eierschalen laufe, wissen Sie, was ich meine?“

Dr. Müller: „Es tut mir leid, das zu hören, Herr Kurz. Das klingt nicht einfach, damit umzugehen. Können Sie mir mehr darüber erzählen, wie sich das auf Sie auswirkt?“

Herr Kurz: (zurückhaltend) „Es beeinträchtigt meinen Schlaf und meine Stimmung. Ich fühle mich in meinem eigenen Haus gefangen.“

Dr. Müller: „Danke, dass Sie mir diese Informationen anvertrauen.“

Herr Kurz: „Ich will nur, dass es aufhört, Herr Doktor. Es wirkt sich auf meine Gesundheit aus, sowohl körperlich als auch mental.“

Dr. Müller: „Ich bin hier, um Ihnen zu helfen. Wir können gemeinsam an der Lösung dieser Probleme arbeiten. Wenn es für Sie in Ordnung ist, könnten wir auch darüber nachdenken, andere zur weiteren Unterstützung hinzuziehen.“

Herr Kurz: „Vielen Dank, Herr Doktor. Ich wusste nicht, ob ich überhaupt etwas sagen sollte. Aber ich wüsste auch nicht, an wen ich mich sonst wenden sollte.

Dr. Müller: „Sie sind damit nicht allein, Herr Kurz. Wir kümmern uns gemeinsam darum, Ihre Sicherheit und Ihr Wohlbefinden zu gewährleisten und die richtigen Leute einzubeziehen, um Sie in dieser schwierigen Situation zu unterstützen.“


3. Exkurs – Verschiedene Formen der medizinischen Betreuung

3.1. Traumainformierte Versorgung
Untertitel aktivieren: Klicken Sie während des Abspielens im Bildschirmbereich unten auf das Untertitel-Symbol (kleines Viereck mit Strichen). Der Untertitel wird direkt eingeblendet. Um die Untertitelsprache zu ändern, klicken Sie auf das Zahnrad daneben und wählen unter „Untertitel“ die gewünschte Sprache aus.
Hier geht es zu einem Erklärvideo.

Hinweis: Auch wenn das Video aus den USA stammt, ist die Situation in Europa vergleichbar. Für weitere Informationen siehe Modul 2 und das Kapitel „2. Auswirkungen von häuslicher Gewalt“.

Ein traumainformierter Pflegeansatz erkennt an, dass Gesundheitsorganisationen und Pflegeteams ein vollständiges Bild der Lebenssituation von Patient:innen – in der Vergangenheit und in der Gegenwart – haben müssen, um wirksame Versorgung anbieten zu können. Die Einführung traumainformierter Praktiken kann die Therapietreue und Ergebnisse von Behandlungen sowie das Wohlbefinden der Mitarbeitenden im Gesundheitssektor und der Patient:innen verbessern. 7

Traumainformierte Versorgung hat folgende Ziele: 8

  1. Erkennen von weitreichenden Auswirkungen von Traumata und Verständnis für die Wege der Genesung;
  2. Erkennen der Anzeichen und Symptome von Traumata bei Patient:innen, Familien und Mitarbeitenden;
  3. Integration von Wissen über Traumata in Richtlinien, Verfahren und Praktiken; und
  4. Aktive Vermeidung einer erneuten Traumatisierung sowohl von Patient:innen als auch von Mitarbeitenden.

Hier gibt es weitere Videos, die die Vorteile der traumainformierten Pflege zeigen (verfügbar in Englisch).


3.2. Patientenzentrierte Versorgung

Eine patienten- und familienzentrierte Pflege fördert eine aktive Partnerschaft und gemeinsame Entscheidungsfindung zwischen Patient:innen, Familien und Mitarbeitenden des Gesundheitssektors, um einen maßgeschneiderten und umfassenden Pflegeplan zu entwickeln und entsprechend umzusetzen. Die meisten Definitionen der patientenzentrierten Versorgung enthalten mehrere Schlüsselkomponenten, die die Gestaltung, das Management und die Erbringung von Gesundheitsdienstleistungen bestimmen: 9

  • Eine kooperative, gut koordinierte und leicht zugängliche Versorgung, die sicherstellt, dass die richtige Versorgung zur richtigen Zeit und am richtigen Ort erbracht wird.
  • Umfassende und rechtzeitig weitergegebene Informationen, so dass Patient:innen und ihre Angehörigen fundierte Entscheidungen treffen können.
  • Berücksichtigung der Ziele von Patient:innen als Teil des Gesundheitsversorgungsplans, anstatt Annahmen oder Vorgaben darüber zu machen, was die Ziele sein sollten (dies steht im Einklang mit traumainformierter Pflege). 10
  • Berücksichtigung des aktuellen und früheren Gesundheitszustands der Patient:innen sowie relevanter Informationen (einschließlich Trauma), die sich auf die Gesundheit auswirken können. Diese müssen bei der Pflegeplanung und -durchführung berücksichtigt werden. 11

3.3. Geschlechter- und diversitätssensible Sprache

Viele transgender und gender-diverse Menschen ändern ihren Namen, ihre Pronomen und ihr äußeres Erscheinungsbild, um ihre Geschlechtsidentität zu bestätigen. Es ist daher nicht möglich, die Geschlechtsidentität einer Person anhand ihres Namens, ihres Aussehens oder des Klangs ihrer Stimme zu erkennen. Männer mit hoher Stimme werden am Telefon oft mit „Frau“ angesprochen. Das kann sehr belastend sein. 12

Eine geschlechter- und diversitätsinklusive Gesellschaft beginnt mit der Kommunikation. Nutzen Sie diese Beispiele für ein optimales Vorgehen in der geschlechtergerechten Kommunikation als Leitfaden für einen respektvollen, angemessenen Umgang mit Patienten und Patientinnen: 13

Optimales VorgehenBeispiele
Vermeiden Sie bei der Ansprache von Patient:innen geschlechtsspezifische Begriffe wie „Herr“ oder „Frau“.„Wie kann ich ihnen heute helfen?“
Wenn Sie über Patient:innen sprechen, vermeiden Sie Pronomen oder andere geschlechtsspezifische Begriffe. Wenn Ihnen der Name des Patienten/der Patientin bekannt ist, verwenden Sie ihn anstelle von Pronomen.„Max Muster ist hier für einen Termin um 15 Uhr“
„Ihr 15-Uhr-Termin ist da“
„Sie haben einen Termin“
Fragen Sie höflich nach, wenn Sie sich über den Namen einer:s Patient:in oder die verwendeten Pronomen unsicher sind.„Wie heißen sie und wie möchten sie angesprochen werden?“
„Ich möchte respektvoll sein. Wie möchten sie angesprochen werden?“
Fragen Sie respektvoll nach, wenn die Namen nicht mit denen in Ihren Unterlagen übereinstimmen.„Könnte ihre Krankenakte unter einem anderen Namen geführt werden?“
„Wie lautet der Name auf ihrer Krankenkassenkarte?“
Haben Sie das falsche Pronomen verwendet? Entschuldigen Sie sich höflich.„Ich entschuldige mich dafür, dass ich das falsche Pronomen verwendet habe. Ich wollte nicht respektlos sein.“
Fragen Sie nur nach Informationen, die für Ihre Arbeit relevant sind.Fragen Sie sich selbst: Was weiß ich schon?
Was muss ich wissen?
Wie kann ich auf einfühlsame Weise fragen?

Hier finden Sie ein Glossar zur geschlechtlichen Vielfalt: https://www.fu-berlin.de/sites/diversity/_media/FU-Glossar-geschlechtliche-Vielfalt-Stand-220623.pdf

Fallstudie: Geschlechtergerechte Kommunikation in einer medizinischen Praxis

Im Folgenden finden Sie ein Beispiel für eine gute Kommunikation zwischen Claire, einer Transgender-Frau, und Danielle, einer medizinischen Fachangestellten am Empfang einer Praxis.

Danielle: „Guten Tag. Wie kann ich Ihnen helfen?“

Claire: „Guten Tag. Ich habe um 14.30 Uhr einen Termin bei Dr. Ludwig.“

Danielle: „Ihr Name, bitte?“

Claire: „Claire Becker.“

Danielle: „Es tut mir leid, aber ich finde Sie unter diesem Namen nicht. Kann es sein, dass Ihr Termin mit einem anderen Namen angemeldet wurde?“

Claire: „Oh ja. Ich habe meinen Namen kürzlich von Peter in Claire geändert.“

Danielle: „Alles klar. Ich sehe hier, dass der Termin unter Peter Becker eingetragen ist. Ich entschuldige mich für den Fehler. Ich werde Ihren korrekten Namen sofort in unserem System aktualisieren. Nur um sicherzugehen, dass wir die richtigen Daten verwenden: Könnten Sie mir Ihr Geburtsdatum nennen?“

Claire: „12. November 1987.“

Danielle: „Sehr gut. Und haben Sie Ihren Namen bereits in Ihrer Versicherung geändert?“

Claire: „Nein, habe ich nicht.“

Danielle: „Nur damit Sie es wissen, ich kann den Namen in Ihrer Versicherung nicht für Sie ändern. Aber wir haben hier eine Sachbearbeiterin, die Menschen bei Versicherungs- und Rechtsfragen hilft. Möchten Sie, dass ich Sie mit ihr in Kontakt bringe?“

Claire: „Oh ja, das wäre großartig. Ich danke Ihnen.“

Danielle: „Kein Problem.“


4. Screening-Fragen zu häuslicher Gewalt 14

Die Mehrzahl der von Beziehungsgewalt Betroffenen befürwortet das aktive, einfühlsame Nachfragen durch Ärzt:innen. Opfer empfinden es oft als Erleichterung, wenn sie nicht selbst auf die Ursachen ihrer Verletzungen und gesundheitlichen Beeinträchtigungen zu sprechen kommen müssen, sondern gezielt und vorsichtig befragt werden.

Wenn das Opfer bejaht:

  • Bieten Sie eine sichere und ungestörte Umgebung (Vier-Augen-Prinzip). Ermutigen Sie die Person, darüber zu sprechen.
  • Hören Sie offen und unvoreingenommen zu.
  • Vermitteln Sie, dass Sie das Problem ernst nehmen.

Wenn das Opfer verneint:

  • Achten Sie weiter bewusst auf Anzeichen von Gewalt.
  • Stellen Sie Anzeichen von Fremdeinwirkung fest, benennen Sie diese und stellen Sie spezifische Fragen.
  • Auch wenn die:der Patient:in verneint, sollten Behandelnde und Pflegende ihren Verdacht dokumentieren und Informationen über Hilfsangebote geben.

„Nicht alle Patientinnen oder Patienten möchten über erlebte Gewalt reden. Es bleibt die Entscheidung des Opfers, wann für sie oder ihn der geeignete Zeitpunkt für ein Gespräch über die Gewalt ist. Für ein Gespräch mit gehörlosen Opfern oder einer Person mit geringen Deutschkenntnissen ziehen Sie eine professionelle Übersetzungsfachkraft hinzu. Vertrauen Sie dem Opfer, geben Sie eine ehrliche Rückmeldung über den belastenden Charakter der traumatischen Situation.“ 15

Lassen Sie in keinem Fall begleitende Familienangehörige, Kinder oder Freund:innen übersetzen. Achten Sie auf eine zugewandte und geschützte Gesprächssituation.16


Beginnen Sie mit allgemeinen Fragen

Verwenden Sie Aussagen wie diese, um das Thema Gewalt anzusprechen, bevor Sie direkte Fragen stellen. Offene Fragen sollten gestellt werden, um Opfer zum Reden zu ermutigen, anstatt nur Ja oder Nein zu sagen. Vermeiden Sie Fragen, die den Opfern die Schuld für die Gewalt zuschieben.

„Wie läuft es zu Hause?“

„Wie kommen Sie mit Ihrem Partner/Ihrer Partnerin zurecht?“

„Ich weiß, dass viele Menschen Probleme mit Gewalt durch ihren Partner oder ihre Partnerin haben, mit anderen Familienmitgliedern oder einer anderen Person, mit der sie zusammenleben. Könnte es sein, dass dies auch bei Ihnen der Fall ist?“


Fragen in den entsprechenden Kontext stellen

Schaffen Sie Raum für Stille, damit die Person Zeit hat, ihre Gedanken zu sammeln. Zeigen Sie Geduld und bewahren Sie ein ruhiges Auftreten. Signalisieren Sie aufmerksames Zuhören, sei es durch Nicken oder verbale Hinweise wie „Hmm …“. Bestätigen Sie die Emotionen und ermutigen Sie Ihre Patient:innen, ihre Geschichte in einem für sie angenehmen Tempo zu erzählen.

“Da Gewalt in unserer Gesellschaft leider so häufig vorkommt, habe ich begonnen, alle meine Patienten und Patientinnen danach zu fragen. 18

„Ich werde Ihnen jetzt eine Frage stellen, die ich allen Patienten und Patientinnen stelle.19

„Weil häusliche Gewalt so viele Auswirkungen auf die Gesundheit hat, frage ich jetzt alle meine Patienten und Patientinnen danach.“

Weitere Beispiele

„Aus Erfahrung mit anderen Patienten und Patientinnen befürchte ich, dass einige Ihrer medizinischen Probleme darauf zurückzuführen sein könnten, dass Ihnen jemand wehgetan hat. Ist das der Fall?” 20

“Ich weiß nicht, ob das auch für Sie zutrifft, aber viele meiner Patienten und Patientinnen haben mit missbräuchlichen Beziehungen zu tun. Manche haben zu viel Angst oder es ist ihnen unangenehm, es selbst anzusprechen, deshalb habe ich angefangen regelmäßig danach zu fragen.” 21

“Gewalt betrifft viele Familien. Dies kann zu körperlichen und emotionalen Problemen bei Ihnen und Ihrem Kind führen. Wir bieten allen, die sich Sorgen über Gewalt in ihrem Zuhause machen, Unterstützung an.22


Stellen Sie direkte Fragen

Hier sind einige einfache und direkte Fragen, mit denen Sie beginnen können. Sie zeigen, dass Sie etwas über die Probleme erfahren wollen. Stellen Sie je nach Antwort weitere Fragen und hören Sie sich die Geschichte an. Wenn das Opfer eine dieser Fragen mit „Ja“ beantwortet, bieten Sie Unterstützung an.

Sagen Sie nicht, dass es nicht so schlimm sei, und spielen Sie den Schmerz nicht herunter.

„Haben Sie zu Hause oder in Ihrer Beziehung jemals Angst gehabt?“

„Hat Ihnen Ihr Partner/ihre Partnerin oder eine andere Person zu Hause schon einmal gedroht, Sie zu verletzen oder Ihnen körperlichen Schaden zuzufügen? Wenn ja, wann ist das passiert?“

„Versucht Ihr Partner oder eine andere Person zu Hause Sie zu kontrollieren, z. B. indem er/sie Ihnen kein Geld gibt oder Sie nicht aus dem Haus gehen lässt?“

Weitere Beispiele

„Wurden Sie unter Druck gesetzt oder zu sexuellen Handlungen gezwungen, die Sie nicht wollten?“

„Wurden Sie innerhalb des letzten Jahres von jemandem geschlagen, getreten, gestoßen oder anderweitig verletzt? Wenn ja, von wem?“ 23

“Fühlen Sie sich in Ihrer derzeitigen Beziehung sicher?” 24


“Gibt es einen Partner /eine Partnerin aus einer früheren Beziehung, bei dem oder der Sie sich jetzt unsicher fühlen?”
25


Haben Sie sich jemals von einer Ihnen nahestehenden Person kontrolliert oder isoliert gefühlt?
26


“Haben Sie einen sicheren Ort, zu dem Sie im Notfall gehen können?”
27

“Hat Ihr Partner/ihre Partnerin oder eine andere Person zu Hause jemals versucht, Sie zu kontrollieren, indem er/sie gedroht hat, Ihnen oder Ihrer Familie etwas anzutun?” 28

„Wurden Sie jemals von einer Ihnen nahestehenden Person geohrfeigt, geschubst oder gestoßen?“

„Warum leben Sie noch mit Ihrem Partner/Partnerin/ Familienmitglied zusammen?“

„Hätten Sie die Situation vermeiden können?“

Sind Sie ein Opfer häuslicher Gewalt? 29

„Sie haben Glück, dass nichts Schlimmeres passiert ist.“

„Warum haben Sie das getan …?“


5. Reaktion auf das Ansprechen von häuslicher Gewalt

Die Entscheidung, über Erfahrungen mit häuslicher Gewalt zu sprechen, ist eine individuelle Entscheidung, und Opfer können sich aus verschiedenen Gründen dafür entscheiden, nicht mit Angehörigen der Gesundheitsberufe darüber zu sprechen, z. B. aus Sorge um die eigene Sicherheit, aus Angst vor möglichen Konsequenzen oder aus mangelndem Vertrauen. Wenn ein:e Patient:in häusliche Gewalt anspricht, erweist sich ein patientenzentrierter Ansatz als vorteilhaft, um der Person und ihrer Familie Unterstützung zu bieten. Fachkräfte des Gesundheitswesens können als Fürsprecher:innen für Opfer von häuslicher Gewalt fungieren. 30

Beschreibung: Das Video veranschaulicht, wie man auf das Ansprechen von häuslicher Gewalt reagieren sollte.

Wenn sich jemand öffnet, hören Sie aktiv zu, ohne zu urteilen oder Lösungen anzubieten, und geben Sie den Raum, Bedürfnisse zu äußern. Sie können zwar durch Fragen für Klarheit sorgen, aber konzentrieren Sie sich darauf, dass die Person ihre Gefühle mitteilen kann. Achten Sie sowohl auf ausgesprochene als auch auf unausgesprochene Hinweise und wenden Sie die folgenden Techniken an, um den Gesprächspartner:innen zu helfen, ihre Bedürfnisse zu artikulieren und selbst ein besseres Verständnis zu erzielen.

Experteninterview mit Daniela Dörfler 

Ass. Prof.inin Dr.in med. Daniela Dörfler ist Fachärztin für Frauenheilkunde und Geburtshilfe. Sie leitet die Opferschutzgruppe (OSG) des Allgemeinen Krankenhauses (AKH) der Stadt Wien. Deren Etablierung ist seit 1. Januar 2009 in Zentral- und Schwerpunktkrankenhäusern vorgeschrieben. Mitglieder der OSG sind ärztliche Vertreter:innen der Frauenheilkunde, der Unfallmedizin und der Psychiatrie, des Pflegedienstes sowie der psychologischen oder psychotherapeutischen Versorgung. Ausführliche Informationen zu Opferschutzgruppen: https://toolbox-opferschutz.at/Opferschutzgruppen.

Gerade die Ambulanzen der Krankenhäuser sind oft die erste Anlaufstelle für Opfer und bilden somit eine wesentliche Schnittstelle zu Beratungseinrichtungen. Die OSG bieten einen wichtigen Beitrag zur Früherkennung und Frühintervention bei Gewaltopfern. Weitere Aufgaben sind die Beratung des ärztlichen und des Pflegedienstes bei Verdacht bzw. Vorliegen von Anzeichen von sexueller, körperlicher und psychischer Gewalt, Sensibilisierung der Mitarbeitenden für Gewalt, das Erstellen von Dokumenten zum strukturierten Vorgehen bei Fragen des Opferschutzes, die Organisation von internen Fortbildungen sowie die Spurensicherung und interdisziplinäre Zusammenarbeit.

In dem Interview beantwortet Ass. Prof.inin Dr.in med. Daniela Dörfler die Fragen, was das Wichtigste in der Kommunikation mit potenziellen Opfern von häuslicher Gewalt ist und wie diese angesprochen werden können: https://training.improdova.eu/wp-content/uploads/2021/08/DD_Modul_3.mp4



Befähigung (Empowerment)

Die Opfer sollten dabei unterstützt werden, ihre Bedürfnisse und Sorgen zu erkennen und zu äußern. Lassen Sie Stille zu. Wenn die Person weint, geben Sie ihr ausreichend Zeit sich zu erholen.

Es sollten keine „Warum“-Fragen gestellt werden.

Gibt es irgendetwas, was Sie brauchen oder worüber Sie sich Sorgen machen?

Warum haben Sie das getan?

„Warum haben Sie Ihre:n Partner:in/Familienangehörigen verärgert?“

Versuchen Sie nicht, die Gedanken der Person zu Ende zu denken. 31


Vertrauen aufbauen und Einfühlungsvermögen zeigen

Sorgen Sie für Klarheit in der Kommunikation, indem Sie wiederholen, was das Opfer gesagt hat, um zu bestätigen, dass Sie das Gesagte verstanden haben. Geben Sie die Emotionen des Opfers wieder und fassen Sie die von ihr oder ihm geäußerten Bedenken zusammen. Vermeiden Sie Suggestivfragen.

„Sie sagten, dass Sie sehr frustriert sind.“

„Es klingt, als ob Sie darüber verärgert wären…“

„Sie scheinen zu sagen, dass …“

„Ich kann mir vorstellen, dass Sie das verärgert hat, nicht wahr?“

Schauen Sie nicht auf die Uhr und sprechen Sie nicht zu schnell. Gehen Sie nicht ans Telefon, schauen Sie nicht auf Ihren Computer und schreiben Sie nichts auf. 32


Gefühle bestätigen

Versichern Sie der anderen Person, dass ihre Gefühle in Ordnung sind. Schaffen Sie ein sicheres Umfeld, um Gefühle zu teilen, und betonen Sie ein Recht auf ein Leben ohne Gewalt und Angst. Es ist wichtig, aufmerksam zuzuhören, zu verstehen und zu glauben, was die Person mitteilt, ohne zu urteilen oder Bedingungen zu stellen.

„Es ist nicht Ihre Schuld. Sie sind nicht schuld.“

„Es ist in Ordnung, darüber zu reden.“

„Hilfe ist vorhanden.“ [Sagen Sie dies nur, wenn es wahr ist.]

Weitere Beispiele

„Es gibt keine Rechtfertigung oder Entschuldigung für das, was passiert ist.“

„Niemand verdient es, von seinem Partner/seiner Partnerin oder einem anderen Familienmitglied geschlagen zu werden.“

„Ihnen ist das nicht allein passiert. Leider haben auch viele andere Menschen mit diesem Problem zu kämpfen.“

„Jeder/jede verdient es, sich zu Hause sicher zu fühlen.“

„Ich mache mir Sorgen, dass sich dies auf Ihre Gesundheit auswirken könnte.“

„Bitte hören Sie auf sich so schlecht zu fühlen, es könnte schlimmer sein“

„Diese Gefühle werden vergehen, daher brauchen Sie sich keine Sorgen machen.“


Unterstützung anbieten

Sehen Sie das Opfer als Expert:in der eigenen Situation. Akzeptieren Sie ihr Verhalten. 33 Geben Sie keine Ratschläge, sondern betonen Sie Ihre Bereitschaft zuzuhören. Signalisieren Sie, dass es keine Entschuldigung für gewalttätiges Verhalten gibt. Nehmen Sie Opfer ernst. Unterstützen Sie diese dabei, ihre eigenen Bedürfnisse und Sorgen zu erkennen und in Worte zu fassen.

„Ich weiß, dass es schwierig ist, darüber zu sprechen, aber Sie können mit mir reden.“

„Sie sind nicht allein. Ich bin für Sie da.“

„Sie sind nicht verantwortlich für das, was vor sich geht.“

Weitere Beispiele

„Gewalt ist niemals in Ordnung und Sie haben dies nicht verdient.“

„Danke, dass Sie mir das anvertraut haben und ihre Gedanken mit mir geteilt haben.“

„Sie sollten sich auf jeden Fall scheiden lassen“.

„Ich glaube, das entspricht dem typischen ‚Männer’/’Frauen‘-Verhalten und es gibt keinen Grund, überzureagieren“.

Erzählen Sie der Person nicht die Geschichte eines anderen oder sprechen Sie nicht über Ihre eigenen Probleme.34


Konfrontation vermeiden

Wenn das Opfer nicht bereit ist, über die Situation zu sprechen, sollten Sie sie/ihn nicht dazu zwingen. Warten Sie den richtigen Zeitpunkt ab. Vermeiden Sie jegliche Form von Druck.

„Ich bin da, um zu helfen, und ich stehe zur Verfügung, auch wenn ich verstehe, dass Sie jetzt nicht darüber reden wollen.“

„Denken Sie daran, dass Sie nicht allein sind. Ich werde für Sie da sein, wenn Sie zum Reden bereit sind.“


Eigene Entscheidungen treffen lassen

„Nicht alle Patientinnen oder Patienten möchten über mögliche erlebte Gewalt reden. Es bleibt die Entscheidung des Opfers, wann für sie oder ihn der geeignete Zeitpunkt für ein Gespräch über die Gewalt ist.“ 35

„Wie kann ich Sie unterstützen?“

„Wie kann ich dazu beitragen, Ihre Sicherheit zu gewährleisten?“


Möglichkeiten aufzeigen, um Hilfe zu erhalten

Informieren Sie über geeignete Unterstützungsangebote. Sprechen Sie mit dem Opfer über die Bedeutung gerichtsfester Befunde. 36 Vermeiden Sie verurteilende Aussagen.

„Hier ist die Nummer des Gewaltschutzzentrums. Dort arbeiten Expert:innen, die Ihnen Beratung anbieten können.“

„Ich möchte Ihnen (Ihrem Kind usw.) helfen, gesund und sicher zu sein. Ich möchte Sie gerne unterstützen und gebe Ihnen daher Informationen mit wichtigen Telefonnummern mit, wenn es für Sie sicher ist, diese zu nehmen.“

„Sie sollten unbedingt diese Nummer anrufen und den Täter/die Täterin sofort verlassen!“

„Warum haben Sie sich nicht schon längst von dieser Person getrennt?“

„Wenn Sie früher gekommen wären, hätte ich Ihnen besser helfen können.“


Nächste Schritte:

Sprechen Sie mit dem Opfer über Sicherheitsmaßnahmen und Risikobewertung. Weitere Informationen finden Sie in Modul 5: Risikobewertung und Sicherheitsplanung.

Wenn es später zu einem Gerichtsverfahren kommt, könnten Sie als die behandelnden Ärzt: innen über die Opfer befragt werden, daher sollten Sie alles gut dokumentieren. Weitere Informationen finden Sie in Modul 4: Medizinische Untersuchung und Beweissicherung.

Weitere Informationen über die strafrechtlichen Verfahren nach einer Anzeige bei der Polizei finden Sie hier.

Fallstudie: Ansprechen von häuslicher Gewalt in der Arztpraxis

Ein 19-jähriger Patient kommt in eine Hausarztpraxis.

Der Arzt: „Guten Morgen, was kann ich heute für Sie tun?“

Patient: „Ich fühle mich im Moment total überlastet und wollte fragen, ob Sie mich für zwei Wochen krankschreiben können?“

Der Arzt: „Gibt es einen bestimmten Grund, warum Sie sich so fühlen, und ist das früher schon einmal vorgekommen?“

Patient: „Ich habe mich noch nie wegen Überlastung krankschreiben lassen. Aber ich bin vor kurzem aus dem Haus meiner Eltern in meine eigene Wohnung gezogen. Im Moment wird mir einfach alles zu viel.“

Der Arzt: „Wenn Sie sich mit Ihrer Situation so überfordert fühlen, biete ich Ihnen gerne weitere Unterstützung an. Möchten Sie mit mir darüber sprechen?“

Patient: „Hm, es ist mir eigentlich sehr unangenehm darüber zu reden. In der Vergangenheit gab es einige Probleme mit meiner Mutter. Sie ist ein Kontrollfreak und hat ständig mein Handy kontrolliert. Wir haben uns immer gestritten, wenn ich mich mit meinen Freunden oder anderen Familienmitgliedern treffen wollte. Das führte dazu, dass ich mich immer mehr abkapselte und die einzige Gesellschaft, wenn ich das Haus verließ, meine Eltern waren. Meine Mutter las die Nachrichten meiner Freunde, bevor ich die Gelegenheit hatte, sie zu lesen. Ich fühlte mich nicht mehr wohl zu Hause, deshalb beschloss ich auszuziehen. Aber ich weiß nicht, ob das die richtige Entscheidung war.“

Der Arzt: „Warum denken Sie, dass es ein Fehler war, auszuziehen?“

Patient: „Seit ich in meiner eigenen Wohnung lebe, ruft mich meine Mutter ständig an und schickt mir Nachrichten. Ich fühle mich unter Druck gesetzt, da sie mir ständig mitteilt, dass sie sich etwas antun wird, wenn ich nicht zurückkomme. Ich sehe ihr Auto ständig auf dem Parkplatz: beim Einkaufen, bei der Arbeit oder bei Treffen mit meinen Freunden. Ich habe immer das Gefühl, dass sie in der Nähe ist. Kann das überhaupt ein Zufall sein? Ich habe mich schon viele Male mit ihr getroffen, weil sie mir so leid tat und ich Angst hatte, dass sie sich wirklich etwas antun würde.“


Hier sehen Sie ein Beispielvideo, in dem gezeigt wird, wie man Opfer ansprechen und unterstützen kann. Weitere Beispiele können weiter unten jeweils im Blickpunkt Gynäkologie/Geburtshilfe, Notaufnahme, Pädiatrie und Zahnheilkunde gefunden werden.

Untertitel aktivieren: Klicken Sie während des Abspielens im Bildschirmbereich unten auf das Untertitel-Symbol (kleines Viereck mit Strichen). Der Untertitel wird direkt eingeblendet. Um die Untertitelsprache zu ändern, klicken Sie auf das Zahnrad daneben und wählen unter „Untertitel“ die gewünschte Sprache aus.
Hier geht es zu einem Erklärvideo.


6. Fragen, die im Zusammenhang mit häuslicher Gewalt aufkommen können

Im Folgenden finden Sie Antworten auf einige Fragen, die sich Mitarbeitende im Gesundheitssystem, die mit Opfern von häuslicher Gewalt arbeiten, stellen könnten.37

„Was kann ich tun, wenn ich wenig Ressourcen und wenig Zeit habe?“

Das Unterstützen von Betroffenen muss nicht lange dauern und erfordert nicht unbedingt zusätzliche Ressourcen. Manchmal reicht ein Satz, um Gewaltopfern zu vermitteln, dass sie nicht allein sind, dass Gewalt nie eine Option ist und dass sie sich Hilfe holen können. Außerdem können Sie sich über Ressourcen im Gesundheitssystem (Opferschutzgruppen – https://toolbox-opferschutz.at/) und andere Hilfsdienste in Ihrer Gegend informieren.

 „Warum keine guten‘ Ratschläge anbieten?“

Für Gewaltbetroffene ist es wichtig, dass ihnen zugehört wird und dass sie die Möglichkeit haben, ihre Geschichte einer einfühlsamen Person zu erzählen. Die meisten wollen nicht, dass man ihnen sagt, was sie tun sollen. Tatsächlich ist es viel hilfreicher, jemandem zuzuhören und mit Einfühlungsvermögen zu reagieren, als Ihnen vielleicht bewusst ist. Es ist vielleicht das Wichtigste, was Sie tun können. Von häuslicher Gewalt betroffene Personen müssen ihren eigenen Weg finden und ihre eigenen Entscheidungen treffen. Darüber zu sprechen, kann ihnen dabei helfen.

Es sollten jedoch auch Informationen (z. B. in Form von Broschüren) über verfügbare Ressourcen (z. B. finanzielle Unterstützung, Kontaktdaten von Unterkünften) angeboten werden.

„Warum gehen Gewaltopfer nicht einfach?“

Es gibt viele Gründe dafür, dass Betroffene in gewalttätigen Beziehungen bleiben. Es ist wichtig, sie nicht zu verurteilen und sie nicht zu drängen, die Beziehung zu verlassen. Sie müssen diese Entscheidung selbst treffen, mit ihrem eigenen Tempo. Zu den Gründen zu bleiben gehören:

  • Finanzielle, soziale und andere Abhängigkeiten: Viele Betroffene fühlen sich von ihren Partner:innen, Familienmitgliedern oder Betreuer:innen abhängig.
  • Normalisierung von Gewalt: Manche Betroffene denken, dass Gewalt in Beziehungen normal ist und dass alle Partner:innen/Familienmitglieder gewalttätig und kontrollierend sind, oder glauben, dass sie es verdienen.
  • Angst: Manche Betroffene haben Angst vor einer extremen und gewalttätigen Reaktion, wenn sie die Beziehung verlassen.
  • Fehlende Unterstützung: Keine Anlaufstelle bzw. keine Unterstützung zu haben, kann eine Trennung erschweren.

Weitere Informationen über die Dynamik der häuslichen Gewalt finden Sie in Modul 2.

„Wie kann man in eine solche Situation geraten?“

Es ist wichtig, dass Sie den Gewaltopfern nicht die Schuld für das Geschehene geben. Dies steht einer guten Betreuung im Weg. Gewalt ist niemals und in keiner Situation angebracht. Für Gewalt gibt es keine Entschuldigung oder Rechtfertigung. Niemand hat es je verdient, Gewalt zu erleben.

„So hat man uns das nicht beigebracht.“

Mitarbeitenden im Gesundheitssektor wird im Allgemeinen beigebracht, dass ihre Hauptaufgabe darin besteht, Krankheiten zu diagnostizieren und zu behandeln. In dieser Situation ist es jedoch nicht hilfreich, den Fokus auf medizinische Belange zu beschränken. Stattdessen müssen Sie den Menschen in den Mittelpunkt stellen, indem Sie zuhören, die Bedürfnisse und Sorgen von betroffenen Personen erkennen, deren soziale Unterstützung stärken und ihre Sicherheit verbessern. Außerdem können Sie Betroffenen helfen, ihre Möglichkeiten zu erkennen und abzuwägen, und ihnen das Gefühl geben, dass sie die Kraft haben, wichtige Entscheidungen zu treffen und umzusetzen.

„Was ist, wenn Opfer nicht zur Polizei gehen?“

Respektieren Sie ihre Entscheidung. Lassen Sie sie wissen, dass sie ihre Meinung ändern können. Lassen Sie sie wissen, dass es jemanden gibt, mit dem sie über ihre Optionen sprechen können und der ihnen bei der Anzeigeerstattung hilft, wenn sie sich dafür entscheiden.

„Wie kann ich Vertraulichkeit zusichern, wenn das Gesetz vorschreibt, dass ich das melden muss?“

Wenn Sie gesetzlich verpflichtet sind, Gewalt bei der Polizei anzuzeigen bzw. der Kinder- und Jugendhilfe zu melden, müssen Sie dies der Person mitteilen. Sie können z. B. sagen: „Was Sie mir erzählen, ist vertraulich, das heißt, ich werde niemandem sonst erzählen, was Sie mir mitteilen. Die einzige Ausnahme ist …“.

Informieren Sie sich über die Einzelheiten der gesetzlichen Vorgaben und die Bedingungen, unter denen Sie zur Anzeige bzw. Meldung verpflichtet sind (z. B. sexuelle Gewalt gegen Kinder und Jugendliche). Versichern Sie dem Gewaltopfer, dass Sie außerhalb dieser Anzeige-/Meldepflicht niemandem ohne Zustimmung davon erzählen werden. Weitere Informationen über rechtliche Aspekte in verschiedenen Ländern finden Sie in Modul 7.

„Was ist, wenn die Person zu weinen beginnt?“

Geben Sie Raum dafür. Sie können sagen: „Ich weiß, es ist schwierig, darüber zu sprechen. Sie können sich Zeit lassen.“

„Was ist, wenn ich Gewalt vermute, mein:e Patient:in dies aber nicht zugibt?“

Versuchen Sie nicht, sie zu zwingen etwas preiszugeben (Ihr Verdacht könnte falsch sein). Sie können sich trotzdem um sie kümmern und weitere Hilfe anbieten.

„Was ist, wenn Gewaltopfer möchten, dass ich mit ihrem:r Partner:in, einem Familienmitglied oder einer:m Betreuer:in spreche?“

Es ist keine gute Idee, dass Sie diese Verantwortung übernehmen. Wenn die betroffene Person jedoch das Gefühl hat, dass es sicher ist und es die Gewalt nicht verschlimmert, kann es hilfreich sein, wenn jemand, den der:die Täter:in respektiert, mit ihm oder ihr spricht – vielleicht ein Familienmitglied, ein:e Freund:in oder eine andere Vertrauensperson. Warnen Sie die betroffene Person allerdings davor, dass es durch eine solche Intervention zu weiterer Gewalt kommen könnte.

„Was ist, wenn der:die Partner:in, das Familienmitglied oder die:der Betreuer:in auch Patient:ein bei mir ist?“

Es ist sehr schwierig, beide als Patient:innen zu haben, wenn es in der Beziehung zu Gewalt kommt. Am besten ist es, wenn ein:e Kolleg:in eine:n der beiden übernimmt, wobei die Vertraulichkeit der Angaben von Betroffenen gewahrt bleiben muss.

„Was ist, wenn ich befürchte, dass der:die Partner:in, das Familienmitglied oder die Betreuungsperson des Opfers sich umbringen wird?“

Teilen Sie dem Opfer ehrlich Ihre Bedenken mit, erklären Sie, warum Sie glauben, dass sie ernsthaft gefährdet sein könnten, und erklären Sie, dass Sie mögliche Optionen für ihren Schutz besprechen möchten. In dieser Situation ist es besonders wichtig, sichere Alternativen anzubieten, wo Betroffene hingehen können.

Bereiten Sie sich auf eine solche Situation vor und halten Sie ein Informationsblatt mit den entsprechenden Telefonnummern (z. B. Gewaltschutzzentrum, Frauenhaus) bereit. Achten Sie darauf, dass diese Liste auf dem neuesten Stand ist.

Fragen Sie, ob es eine Vertrauensperson gibt, die Sie in das Gespräch einbeziehen können.

„Was ist, wenn ich mit dem, was ich höre, nicht umgehen kann?“

Ihre Bedürfnisse sind genauso wichtig wie die der Opfer, die Sie betreuen. Möglicherweise haben Sie starke Reaktionen oder Emotionen, wenn Sie Betroffenen zuhören oder mit ihnen über Gewalt sprechen. Das gilt besonders, wenn Sie selbst Gewalt erlebt haben oder gerade erleben.

Seien Sie sich Ihrer Gefühle bewusst und nutzen Sie die Gelegenheit, sich selbst besser zu verstehen. Holen Sie sich die Hilfe und Unterstützung, die Sie für sich selbst brauchen.


7. Kommunikation in Gesundheitsteams

Vor allem im hektischen Klinikalltag oder in Arztpraxen kann es Probleme mit Kolleg:innen oder grundsätzliche strukturelle Barrieren beim Thema häusliche Gewalt geben. Leider gibt es Fälle, in denen die Unterstützung von Kolleg:innen oder Vorgesetzten beim Umgang mit häuslicher Gewalt ausbleibt, weil sie sich nicht mit dem Thema befassen wollen.


8. Visuelle Kommunikation

Für Menschen, die häusliche Gewalt erleben, ist es oft schwierig, Informationen oder Beratungs- und Unterstützungsangebote zu finden. Visuelle Kommunikation spielt eine entscheidende Rolle bei der Sensibilisierung für häusliche Gewalt in medizinischen Einrichtungen wie Krankenhäusern und Arztpraxen. Der Einsatz von Hilfsmitteln wie Postern (z. B. mit QR-Codes), Broschüren oder Faltblättern, die strategisch in Wartezimmern, Toiletten und anderen Bereichen platziert werden, ist von wesentlicher Bedeutung. Legen Sie Informationen im Scheckkartenformat über Beratungs- und Unterstützungsmöglichkeiten in Waschräumen auf (mit entsprechenden Warnungen, sie nicht mit nach Hause zu nehmen, wenn der:die Täter:in sie finden könnte).

Die visuellen Hilfsmittel vermitteln, dass dies ein sicherer Ort ist, um über häusliche Gewalt zu sprechen, und machen die Unterstützungsmöglichkeiten bekannt. Durch die Schaffung eines visuellen Umfelds, in dem häusliche Gewalt offen angesprochen wird, fühlen sich die Opfer eher ermutigt, sich zu melden und Hilfe zu suchen. Dieser proaktive Ansatz trägt dazu bei, das Schweigen über häusliche Gewalt zu brechen und eine unterstützende Atmosphäre in Gesundheitseinrichtungen zu fördern.

Denken Sie daran:

  • Verwenden Sie inklusives Bildmaterial, das die unterschiedlichen Erfahrungen der Opfer (alle Geschlechter, ohne Stereotypen) genau darstellt.
  • Verwenden Sie Informationen in mehreren Sprachen.
  • Wählen Sie aussagekräftige Bilder, die eine positive Botschaft vermitteln. Vermeiden Sie traumatisierende Bilder, wie z. B. Darstellungen von körperlicher Gewalt, sexualisierte Darstellungen von Opfern sowie Bilder, die sich ausschließlich auf bestimmte Bevölkerungsgruppen beziehen.


Plakate und Freecards auf der Website der Autonomen Österreichischen Frauenhäuser (AÖF) – https://www.aoef.at/index.php/2013-09-24-11-36-31/2014-04-08-10-00-54

Toolkit der UN-Kampagene „Orange the World“ (Österreich) – https://www.unwomen.at/unserearbeit/kampagnen/orange-the-world/toolkit/ 

Internationale Hilfssignale für häusliche Gewalt:

Dies ist eine internationale einhändige Geste, mit der auf häusliche Gewalt aufmerksam gemacht wird. Sie kann eingesetzt werden, wenn die hilfsbedürftige Person nicht laut sprechen kann, z. B. weil der:die Täter:in in der Nähe ist (im Auto, zu Hause usw.).

Das Signal wird ausgeführt, indem eine Hand hochgehalten wird, wobei der Daumen in die Handfläche gesteckt wird, und dann die vier anderen Finger nach unten geklappt werden, wobei der Daumen symbolisch von den restlichen Fingern umschlossen wird.


Nutzen Sie Informationsbroschüren über häusliche Gewalt oder über lokale Beratungsstellen.

Mögliche Broschüren zum Auslegen in der Praxis:


Wenn es nicht sicher ist, dem Opfer einen Flyer zu geben, besteht die Möglichkeit, z. B. eine Visitenkarte mit versteckten Telefonnummern und Adressen herzustellen und dann zu übergeben. Ein Beispiel für eine Visitenkarte für Frauen und Männer finden Sie im Fokus Zahnheilkunde.


Buttons zum Anstecken signalisieren, dass dies ein sicherer Ort ist, um über häusliche Gewalt zu sprechen.


  1. Gewaltschutzzentren in Österreich – https://www.gewaltschutzzentrum.at/
  2. Informationen und Überblick über Hilfseinreichtungen bei Gewalt – https://www.frauenberatung.gv.at/informationen/hilfseinrichtungen-bei-gewalt-.html
  3. Übersicht über österreichweite und bundeslandspezifische Hilfsangebote bei unterschiedlichen Gewaltformen (Bundeskanzleramt) – https://www.hilfsangebote-bei-gewalt-gegen-frauen.at/hilfsangebote.html?region=oesterreichweit&gewaltform=&art=&currentPage=1

Im Blickpunkt: Gynäkologie/Geburtshilfe, Chirurgie und Pädiatrie

9. Gynäkologie/Geburtshilfe

Sehen Sie sich dieses Video an, welches ein erstes Gespräch zwischen einer schwangeren Patientin und einer Ärztin zeigt. Achten Sie besonders auf den Kommunikationsstil der Ärztin und beobachten Sie, wie sie mit der Patientin durch Sprache, Tonfall und nonverbale Signale interagiert. Diese Aspekte sind entscheidend für die Schaffung von Vertrauen und einer geschützten Gesprächssituation.

Untertitel aktivieren: Klicken Sie während des Abspielens im Bildschirmbereich unten auf das Untertitel-Symbol (kleines Viereck mit Strichen). Der Untertitel wird direkt eingeblendet. Um die Untertitelsprache zu ändern, klicken Sie auf das Zahnrad daneben und wählen unter „Untertitel“ die gewünschte Sprache aus.
Hier gehts zu einem Erklärvideo.

Spezifische Fragen bei sexuellen Übergriffen 38

  • „Wurden Sie schon einmal auf eine Art und Weise berührt, bei der Sie sich unwohl gefühlt haben?“
  • „Hat Sie schon einmal jemand gezwungen, etwas Sexuelles zu tun, obwohl Sie es nicht wollten?“
  • „Hat sich ihr Partner jemals geweigert, ein Kondom zu verwenden?“

Im folgenden Video sehen Sie ein Gespräch zwischen einer Patientin und ihrem Arzt während einer routinemäßigen Untersuchung. Das Video unterstreicht bedeutende Aspekte der Patientenversorgung, insbesondere die Schaffung einer sicheren und geschützten Atmosphäre für die Besprechung sensibler Themen. Achten Sie darauf, wie der Arzt das Gespräch mit Respekt und Wertschätzung gestaltet, während er das Thema häusliche Gewalt anspricht.

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Dieses Video zeigt eine junge Frau, die einen negativen Schwangerschaftstest erhält und über Verhütungsoptionen sprechen möchte. Es beginnt mit einer kurzen Einführung in das Thema reproduktive Gewalt. Achten Sie besonders darauf, wie die Ärztin mit der Patientin interagiert, indem sie ihr Anleitung und Unterstützung bietet und sensible Themen respektvoll und informativ anspricht.

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Beispiel dafür, wie häusliche Gewalt in der Hebammenpraxis thematisiert werden kann:

Aufgrund von Beschwerden im Beckenbereich weist die Hebamme Alessia an, eine Urinprobe abzugeben. In der Toilette der Hebammenpraxis fällt Alessia ein Plakat mit Informationen und Daten zu häuslicher Gewalt auf, an dem gelbe Klebepunkte angebracht sind. Neben diesen Punkten liest Alessia die Aufforderung: „Wenn Sie über häusliche Gewalt sprechen möchten, kleben Sie bitte einen dieser Punkte unter Ihren Urinbehälter.“ Nach einigem Zögern nimmt Alessia einen Punkt, klebt ihn unter den Urinbehälter und legt ihn in das dafür vorgesehene Fach. 39


10. Notaufnahme (Chirurgie)

Leider ist es in einem hektischen klinischen Umfeld nicht immer einfach, Opfer zu erkennen, anzusprechen und zu unterstützen. Trotzdem genau Hinzusehen und Zuzuhören kann jedoch entscheidend sein.

Fallstudie: Erkennen von und Reagieren auf vermutete häusliche Gewalt

Rubina M. ist mit Verdacht auf Armbruch, angeknacksten Rippen und Prellungen am Hals in die Notaufnahme gekommen.

Sie hat der Krankenpflegerin am Empfang erzählt, dass ihre Verletzungen von einem Treppensturz in ihrer Wohnung stammen. Der Arzt in der Notaufnahme, der sie untersucht, befürchtet allerdings aufgrund der Blutergüsse an Rubinas Hals, dass sie häuslicher Gewalt ausgesetzt war.

Patientin: „Ich komme mir wie eine Idiotin vor! Ich weiß nicht, was passiert ist, ich bin einfach oben auf der Treppe gestolpert. Ich werde versuchen, in Zukunft vorsichtiger zu sein. Wird es lange dauern, bis es wieder geheilt ist?“

Arzt: „Unfälle passieren, Frau M. Konzentrieren wir uns darauf, Sie wieder gesund zu machen. Mir ist aufgefallen, dass Sie in letzter Zeit öfters hier waren. Gibt es dafür einen bestimmten Grund?“

Patientin: „Ich bin einfach sehr ungeschickt, nehme ich an. Ich falle ständig hin, wissen Sie?“

Arzt: „Die Prellung an Ihrem Hals ist eine sehr ungewöhnliche Verletzung, die Sie sich bei diesem Sturz zugezogen haben. Kann es sein, dass diese Verletzungen von einer anderen Person stammen? Ist zu Hause alles in Ordnung?“

Patientin: „Ich verstehe nicht, worauf Sie hinauswollen. Aber ja, es ist alles in Ordnung. Können Sie bitte einfach meinen Arm behandeln und mich jetzt nach Hause gehen lassen?“

Arzt: „Ich möchte sicherstellen, dass Sie die richtige Behandlung bekommen. Auch wenn Sie etwas anderes sagen, mache ich mir Sorgen wegen Ihrer wiederholten Verletzungen. Können Sie mir bitte mehr darüber sagen, was zu Hause vor sich geht?“

(die Patientin bleibt stumm)

Arzt: „Ich bin hier, um Ihnen zu helfen. Wenn es etwas gibt, das Sie nicht mit mir teilen möchten, ist das in Ordnung. Aber für Ihr Wohlergehen ist es wichtig, dass ich das ganze Bild verstehe. Was die Verletzungen angeht, sollten wir uns überlegen, wie wir am besten vorgehen, damit Sie wieder schnell gesund werden“.

Patientin: (fängt an zu weinen) „Wissen Sie, vor ein paar Monaten ist ein neuer Mitbewohner eingezogen. Zuerst war es nur ein Scherz, lustige Schläge und so. Aber dann wurde es schlimmer, und er tat mir weh. Wenn er von der Uni gestresst ist, lässt er das an mir aus. Ich glaube, ich bin vielleicht depressiv. Ich kann mit niemandem reden; ich habe Angst und fühle mich machtlos.“ Arzt (macht eine Pause und gibt der Patientin Zeit, darüber zu sprechen): „Ich weiß, dass es schwierig ist, darüber zu sprechen. Ich weiß es zu schätzen, dass Sie mir das erzählen. Es ist nicht leicht. Sie müssen das nicht allein durchstehen. Es ist nicht in Ordnung, dass Ihr Mitbewohner Ihnen wehtut und Sie Angst vor ihm haben. Es ist wichtig, dass wir uns sowohl um Ihre körperlichen Verletzungen als auch um Ihr emotionales Wohlbefinden kümmern. Ich mache mir wirklich Sorgen um Ihre Sicherheit. Möchten Sie mit einer Opferschutzgruppe oder einer spezialisierten Beratungsstelle für Gewaltopfer sprechen?“

Fallstudie adaptiert nach General Medical Council 2023


11. Pädiatrie

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Kindesmissbrauch hat verschiedene Erscheinungsformen und wirkt sich auf jedes Kind unterschiedlich aus. Nicht in allen Fällen kommt es zu sichtbaren Verletzungen, weshalb es wichtig ist, die Indikatoren (siehe Modul 2) zu kennen. Auch wenn häufig keine körperlichen Verletzungen vorliegen, stellen die dauerhaften Auswirkungen auf die neurologische, kognitive und emotionale Entwicklung eines Kindes eine große Herausforderung dar. Hier erfahren Sie mehr über die langfristigen Auswirkungen von häuslicher Gewalt auf Kinder, ob als Zeug:innen oder als Opfer von häuslicher Gewalt.

Über sexuelle Gewalt sprechen – kann es auch sein, dass Kinder sich das ausdenken? 40

Wichtig zu wissen: Sexuelle Handlungen von Erwachsenen gehören nicht zur Erfahrungswelt von Kindern. Deshalb ist es sehr unwahrscheinlich, dass sie sich dazu Geschichten ausdenken oder „blühende Fantasien“ entwickeln. Lügen und Fantasie sind für Kinder normalerweise Versuche, um sich aufzuwerten, sich „wichtig zu machen“. Weil sexuelle Gewalt aber mit Abwertung und Beschämung zu tun hat, denken sich Kinder solche Ereignisse meist nicht aus. In seltenen Fällen kann es vorkommen, dass sie eine andere Person als den oder die Täter:innen benennen, vielleicht um ihnen nahestehende Täter:innen zu schützen. Manchmal geschieht dies auch, weil sie vor ihm:ihr große Angst haben. Auch können einzelne Teile von Schilderungen fehlerhaft sein,  die Angaben jedoch im Kern stimmen.

Dies gilt auch für Jugendliche, auch wenn sexuelle Handlungen mit Erwachsenen durchaus zu ihrer Erfahrungswelt gehören können. Anders als Kinder könnten sie sich sexuelle Gewalt eher ausdenken. Gleichzeitig wissen Jugendliche sehr gut, welchen Preis sie unter Umständen zu zahlen hätten: Jugendlichen Opfern wird häufig eine Mitschuld unterstellt und/oder sie werden stigmatisiert. Deswegen erfinden die allerwenigsten Jugendlichen Situationen, um Erwachsenen Schaden zuzufügen. Jugendliche wie Kinder, die ja oftmals große Hürden überwinden müssen, um sich mitzuteilen, haben es verdient, dass wir ihnen glauben, ihnen also gerade nicht reflexhaft mit Unglauben begegnen. Die Angst, dass ihnen nicht geglaubt wird, ist übrigens einer der Gründe, warum sich viele für Schweigen entscheiden.

Und wenn es die Familie zerstört? 41

Es gehört zu den größten Ängsten von Kindern und Jugendliche, die sexuelle Gewalt in der Familie erleben, dass die Familie zerbricht, wenn sie anfangen, darüber zu reden. Sie fühlen sich für die Familie verantwortlich. Umso schlimmer, dass diese Angst oft berechtigt ist: Sie müssen häufig Ignoranz oder auch Vorwürfe anderer Familienmitglieder ertragen, sobald sie den Mut gefunden haben zu sagen, was ist oder war. Dieser Umgang mit Betroffenen stellt aber die Verantwortlichkeiten auf den Kopf. Nicht die Aufdeckung von sexueller Gewalt innerhalb einer Familie erschüttert die Familie in ihren Grundfesten. Die Zerstörung hat lange vorher stattgefunden: Nämlich dadurch, dass ein Elternteil oder ein anderes Familienmitglied den privaten Schutzraum Familie, in dem sich Kinder und alle anderen Familienangehörigen sicher, geborgen und miteinander vertraut fühlen sollten, benutzt, um sexuelle Gewalt anzubahnen und auszuüben.

Und wenn es ein falscher Verdacht ist? 42

Ein Verdacht, egal ob berechtigt oder unberechtigt, schädigt den Ruf der Person. Aber sexuelle Gewalt zu übersehen, aus Angst jemanden falsch zu verdächtigen, fügt betroffenen Kindern und Jugendliche ungleich mehr Schaden zu, weil Taten nicht verhindert und die Opfer allein gelassen werden!

Die meisten Falschverdächtigungen entstehen nicht, weil Kinder oder Jugendliche die Unwahrheit sagen, sondern eher, weil Erwachsene vorschnell einen Verdacht aussprechen oder Gerüchte verbreiten, wenn ihnen Situationen oder konkretes Verhalten merkwürdig oder verdächtig erscheinen. Manche Menschen interpretieren Verhaltensänderungen bei Kindern und Jugendlichen als sichere Anzeichen von sexueller Gewalt oder missverstehen ihre Äußerungen. Einige sind so voller Sorge, dass sie voreingenommen mit Kindern oder Jugendlichen sprechen. Unbeabsichtigt bringen sie diese dazu, so zu antworten, wie es vermeintlich von ihnen erwartet wird. Gleichzeitig müssen wir wissen, dass sich ein Verdacht nicht darüber klären lässt, dass wir die verdächtigte Person konfrontieren. Denn sowohl zu Unrecht Beschuldigte wie auch Täter:innen bestreiten solche Vorwürfe gleichermaßen. Deswegen ist es entscheidend, dass erfahrene Fachleute mit Kindern und Jugendlichen sprechen. Sie können am ehesten bewerten, wie die Aussagen einzuordnen sind und ob sich über diese Aussagen ein Verdacht erhärten oder im Gegenteil ausräumen lässt.


Viele Kinder fühlen sich unsicher, weil der:die Täter:in jemand ist, den sie lieben. Bieten Sie eine geschlechtersensible und auf das Kind oder den:die Jugendliche:n ausgerichtete Erstbetreuung an. Dies beinhaltet: 43

  • Respektvolles und einfühlsames Zuhören;
  • Erkundigen Sie sich nach Sorgen, Anliegen und Bedürfnissen und beantworten Sie alle Fragen;
  • Keine wertende und/oder bestätigende Antwort geben;
  • Maßnahmen ergreifen, um die Sicherheit zu erhöhen und den Schaden zu minimieren und, wenn möglich, die Wahrscheinlichkeit zu vermindern, dass die Gewalt fortgesetzt wird; dies schließt die Gewährleistung der visuellen und auditiven Privatsphäre ein;
  • Emotionale und praktische Unterstützung durch Zugang zu psychosozialen Diensten anbieten;
  • Bereitstellung altersgerechter Informationen darüber, was getan wird, um Opfer zu betreuen, einschließlich der Information, ob eine Meldung an die zuständigen Behörden erfolgen muss;
  • Zeitnahe Betreuung der Kinder/Jugendlichen entsprechend ihren Bedürfnissen und Wünschen;
  • Priorisierung der unmittelbaren medizinischen Notwendigkeiten und der Erstversorgung;
  • Altersgerechte Gestaltung des Umfelds und der Art und Weise, in der die Versorgung geleistet wird, sowie Sensibilität für die Bedürfnisse, die z. B. aufgrund einer Behinderung oder der sexuellen Ausrichtung vorliegen können;
  • Minimierung der Notwendigkeit, zu mehreren Behandlungsorten gehen zu müssen;
  • Betreuungseinrichtungen sowie nicht an der Gewalt beteiligte Bezugspersonen mit Informationen versorgen, damit diese möglichen Symptome und Verhaltensweisen verstehen, die Kinder oder Jugendliche in den nächsten Tagen oder Monaten zeigen könnten und damit sie wissen, wann sie weitere Hilfe suchen sollten.

Screening-Fragen

Stellen Sie einfache Fragen. Das Kind sollte nicht „verhört“ werden. Lassen Sie Raum für Pausen. Wenn das Kind weint, geben Sie ihm oder ihr genügend Zeit sich zu erholen.

„Gibt es etwas, worüber du traurig bist oder das dir Sorgen macht?“

„Manche Kinder können zu Hause Angst bekommen. Was glaubst Du was Dir Angst machen könnte?“

„Was passiert bei Dir zu Hause, wenn Menschen wütend werden?“ 44

„Ist der rote Fleck auf deinem Arm eine Folge der elterlichen körperlichen Bestrafung?“


Vertrauen aufbauen und Einfühlungsvermögen zeigen

Auf diese Weise können Sie durch Bestätigung und Einfühlungsvermögen Unterstützung bieten. Das Kind sollte beruhigt werden.

„Ich glaube dir.“

„Ich bin froh, dass du zu mir gekommen bist.“

„Es tut mir leid, dass das passiert ist.“

„Danke, dass du mir das gesagt hast.“

Weitere Beispiele

„Ich bin hier, um dir zuzuhören und dich zu unterstützen.“ 45

„Viele Menschen machen solche Erfahrungen, und es ist nicht deine Schuld.“ 46

„Ich weiß, dass es viel Mut erfordert, darüber zu sprechen.“ 47

„Du bist nicht allein.“48

„Nichts, was du getan hast, hat dies verursacht.“ 49

„Du solltest froh sein, dass du überlebt hast“

„Du Armer“, „Du Arme“


Es ist in Ordnung, eine Pause zu machen

Setzen Sie die betroffenen Kinder nicht unter Druck, ihre Geschichte zu erzählen. Schauen Sie nicht auf die Uhr oder den PC-Bildschirm. Sprechen Sie nicht zu schnell, gehen Sie nicht ans Telefon und schreiben Sie nicht. Unterbrechen Sie nicht. Warten Sie mit Ihren Fragen, bis die Kinder fertig erzählt haben.

„Ich habe Zeit für dich und bin da.“

„Auch wenn Du sich unwohl fühlst, ist es besser, darüber zu sprechen. Beantworte also bitte meine Fragen.“


Nehmen Sie dem Kind/Jugendlichen die Last ab

Zwingen Sie niemals ein Kind bzw. eine:n Jugendliche:n über die Situation zu sprechen. Üben Sie keinen Druck aus.

„Was zu Hause vor sich geht, ist nicht deine Schuld.“ 50

„Es ist in Ordnung, gemischte Gefühle gegenüber einem oder beiden Elternteilen/Familienmitgliedern zu haben.“

„Du solltest dich nicht so fühlen.“

„Warum streiten deine Eltern?”


Der:die SUPER LISTENER wurde von Kindern und Jugendlichen entwickelt, die Erfahrungen mit häuslicher Gewalt gemacht haben. Dies war ein partizipatives Projekt, in dem untersucht wurde, wie gerichtlich angeordnete Verfahren zur Besuchs- und Kontaktregelung für Kinder verbessert werden können. Für die Kinder, die an diesem Programm teilnahmen, war wichtig, dass alle Erwachsenen, die mit Kindern arbeiten, wissen, was eine:n SUPER LISTENER ausmacht.

Hier zum Herunterladen: https://www.ed.ac.uk/files/atoms/files/mh-ijcc-super-listener-a1-poster-german_0.pdf


Häusliche Gewalt – Ein Thema für die Schule

Das Video zeigt ein Gespräch mit einer Schülerin bei Verdacht auf häusliche Gewalt. Auch wenn es sich nicht um ein Gespräch im medizinischen Sektor handelt, illustriert dies sehr gut, wie man das Thema als Kinderärzt:in ansprechen kann:

Aufgaben zur Reflexion:
(1) Wie schafft die Lehrerin es, eine vertrauensvolle Atmosphäre zu schaffen?
(2) Welche Kommunikationsstrategien verwendet die Lehrerin?
(3) Welche Reaktion der Mutter im Telefonat könnte auf ein Problem zu Hause hindeuten?


Es gibt einige gute Quellen darüber, wie man mit Kindern, die häuslicher und sexueller Gewalt ausgesetzt sind, gut kommunizieren kann (auf Englisch):

https://www.ojp.gov/pdffiles1/Photocopy/161623NCJRS.pdf

https://www.jstor.org/stable/pdf/42854957.pdf

https://www.nationalcac.org/wp-content/uploads/2016/10/Dynamics-of-forensic-interviews-with-suspected-abuse-victims-who-do-not-disclose-abuse.pdf


Im Blickpunkt: Zahnheilkunde

12. Zahnheilkunde

Fallbeispiel: Signale erkennen und Kommunikation bei Verdacht auf häusliche Gewalt in der Zahnarztpraxis

Frau Hütte stellt sich als neue Patientin in einer Zahnarztpraxis vor. Sie kommt wegen anhaltenden Zahnschmerzen im Oberkiefer. Sofort fällt der Zahnärztin die ängstliche und verschüchterte Art der Patientin auf. Obwohl die Patientin im Wartezimmer bereits einen Anamnesebogen ausgefüllt hat, nimmt sich die Zahnärztin einen Moment Zeit, um die Patientin besser kennenzulernen.

Zahnärztin: „Sind sie neu nach K. gezogen, Frau Hütte?“

Frau Hütte: „Nein, mein Mann und ich leben schon seit 7 Jahren hier. Bisher hatte ich noch keine Probleme mit den Zähnen. Doch jetzt bereiten mir meine Zahnschmerzen so schlaflose Nächte, dass es nicht mehr aushaltbar ist.“

Zahnärztin: „Okay, dann schaue ich mir das mal genauer an“. Beim Behandlungsbeginn erkennt sie eine kleine rötliche Einblutung um die Augen der Patientin.

Als sie mit ihrem Spiegel in den Mund schauen möchte, zuckt die Patienten sofort weg. „Ich bin ganz vorsichtig“ sagt sie zur Patientin. „Ich versuche mir nur einen Überblick zu verschaffen, um zu verstehen, woher die Schmerzen kommen könnten“.

Frau Hütte nickt, doch ihr Körper entspannt sich nicht. Die verkrampfte Haltung bleibt. Als Frau Hütte während der Untersuchung erschrickt, verrutscht ihr Schal und die Zahnärztin sieht mehrere dunkel-violette, sowie bereits verblasste Hämatome an ihrem Hals. Die Zahnärztin registriert es zwar, denkt erst einmal aber nicht weiter drüber nach.

Da die Zahnärztin bei der Untersuchung nicht erkennen kann, woher die Zahnschmerzen kommen, ordnet sie ein Röntgenbild an. „Ist das denn wirklich nötig?“ fragt Frau Hütte. „Ja, auf jeden Fall“, antwortet die Zahnärztin. „Sie sind heute das erste Mal bei uns. Ich möchte mir einen Überblick verschaffen. Wurzelspitzen und mögliche Entzündungen kann man nur im Röntgenbild diagnostizieren. Dazu möchte ich eine Übersichtsaufnahme (OPG/PSA) anfertigen, auf der alle Zähne, die Kiefer und beide Kiefergelenke vollständig abgebildet sind. Weiterhin kann ich bei der äußeren Untersuchung nicht klar erkennen, woher, also von welchem Zahn genau, Ihre Schmerzen kommen. Ohne weitere Informationen kann ich Ihnen leider nicht helfen. Eine Röntgenaufnahme ist auch gar nicht schmerzhaft. Das Gerät fährt nur einmal um sie herum!“.

Als die Zahnärztin das Röntgenbild sieht, ist sie geschockt. Sie erkennt einen Unterkieferbruch auf dem Röntgenbild. Sie fragt sich, warum Frau Hütte nicht schon früher gekommen ist. Das müssen höllische Schmerzen gewesen sein. Als Frau Hütte wieder auf ihrem Behandlungsstuhl sitzt, spricht die Zahnärztin den Kieferbruch an.

Zahnärztin: „Ich erkenne auf dem Röntgenbild einen frischen Unterkieferbruch, der für die Schmerzen verantwortlich sein kann. Erinnern Sie sich, wie es zu dieser Verletzung kam?“

Frau Hütte antwortet: „Ach das, das ist schon lange her. Ich kann mich schon gar nicht mehr richtig daran erinnern.“

Zahnärztin: „Ist bei ihnen zu Hause alles in Ordnung? Solche Verletzungen treten häufig auf, wenn einem eine andere Person wehgetan hat. War das bei ihnen der Fall? Ich habe auch mehrere Blutergüsse an Ihrem Hals gesehen.“

Frau Hüttes Augen füllen sich mit Tränen, sie antwortet jedoch nicht auf die Fragen. Die Zahnärztin respektiert das und möchte sie nicht bedrängen.

Sie gibt ihr aber am Ende der Behandlung eine Art Visitenkarte mit, auf der verdeckte Nummern von Frauenhäusern und Gewalthotlines stehen und erklärt ihr, dass sie sich dorthin wenden kann, falls ihr etwas zu Hause Angst macht oder sie sich dort nicht sicher fühlt. Auch dürfe sie sich gerne wieder bei ihr melden, denn niemand dürfe einem anderen Menschen weh tun oder Angst machen.

Die Zahnärztin bestellt die Patientin zeitnah wieder ein, um die Behandlung fortzusetzen und macht einen entsprechenden Vermerk in der Krankenakte. Sie nimmt sich vor, Frau Hütte auf die Situation zu Hause dann wieder anzusprechen.

Mögliche Gründe, warum Opfer häuslicher Gewalt in der Zahnarztpraxis nicht von sich aus ansprechen: 51

  • Annahme, dass der der:die Zahnärzt:in nicht genügend Zeit dafür hat
  • Hemmungen, etwas zu sagen, wenn noch weiteres Personal im Behandlungsraum ist
  • Sprachbarrieren, z. B. Einsatz von Familienmitgliedern als Dolmetscher:innen
  • Annahme, dass Zahnärzt:innen sich nicht damit auskennen und nicht die richtigen Ansprechpartner:innen sind
  • Verlegenheit, Unsicherheit, mangelndes Vertrauen
  • Geschlecht des behandelnden Arztes/der behandelnden Ärztin

Hilfen für den Praxisalltag: 52

Es kann direkt in den Anamnesebogen mit aufgenommen werden, dass nach häuslicher Gewalt gefragt wird: „Wir fragen generell unsere Patientinnen und Patienten nach häuslicher Gewalt.“
Je besser Zahnärzt:innen wissen, wie sie Gewaltopfern helfen können, desto sicherer werden sie sich fühlen, das Thema anzusprechen.

Falls es nicht sicher ist, den Opfern einen Flyer mitzugeben, ist es eine gute Möglichkeit, z. B. eine Visitenkarte mit verdeckten Nummern und Adressen zu gestalten. Hier sind Beispiele für Visitenkarten für Frauen bzw. Männer mit Informationen zu Hilfseinrichtungen im Umkreis von Münster.


Ablaufdiagramm in der Zahnmedizin



Quellen

  1. RACGP, Factsheet: Improving Responses, https://www.racgp.org.au/familyviolence/resources.htm, accessed 10.01.2024 ↩︎
  2. Levinson W, Gorawara-Bhat R, Lamb J. A Study of Patient Clues and Physician Responses in Primary Care and Surgical Settings. JAMA. 2000;284(8):1021–1027. doi:10.1001/jama.284.8.1021 ↩︎
  3. Suzanne C. Tayal, MDa; Kristen Michelson, PhDb; Neeraj H. Tayal, MDc „Empathetic Listening Honor the Patient Experience During Crisis“, American Medical Association (AMA), 2016.
    https://edhub.ama-assn.org/steps-forward/module/2702561#section-249301126 ↩︎
  4. Suzanne C. Tayal, MDa; Kristen Michelson, PhDb; Neeraj H. Tayal, MDc „Empathetic Listening Honor the Patient Experience During Crisis“, American Medical Association (AMA), 2016.
    https://edhub.ama-assn.org/steps-forward/module/2702561#section-249301126 ↩︎
  5. Suzanne C. Tayal, MDa; Kristen Michelson, PhDb; Neeraj H. Tayal, MDc „Empathetic Listening Honor the Patient Experience During Crisis“, American Medical Association (AMA), 2016.
    https://edhub.ama-assn.org/steps-forward/module/2702561#section-249301126 ↩︎
  6. Trauma-Informed Care Implementation Resource Center, https://www.traumainformedcare.chcs.org/what-is-trauma-informed-care/ , accessed 11.01.2024 ↩︎
  7. Trauma-Informed Care Implementation Resource Center, https://www.traumainformedcare.chcs.org/what-is-trauma-informed-care/ , accessed 11.01.2024 ↩︎
  8. Trauma-Informed Care Implementation Resource Center, https://www.traumainformedcare.chcs.org/what-is-trauma-informed-care/ , accessed 11.01.2024 ↩︎
  9. „What Is Patient-Centered Care? Explore the definition, benefits, and examples of patient-centered care. How does patient-centered care translate to new delivery models?“  NEJM Catalyst, January 1, 2017, accessed 11.02.2024.
    https://catalyst.nejm.org/doi/full/10.1056/CAT.17.0559 ↩︎
  10. „A National Protocol for Intimate Partner Violence Medical Forensic Examinations“, U.S. Department of Justice Office on Violence Against Women, May 2023, p. 20, accessed 11.01.24. ↩︎
  11. „A National Protocol for Intimate Partner Violence Medical Forensic Examinations“, U.S. Department of Justice Office on Violence Against Women, May 2023, p. 20, accessed 11.01.24. ↩︎
  12. National LGBTQIA+ Health Education Center, „Affirmative Services for Transgender and Gender-Diverse People – Best Practices for Frontline Health Care Staff“, 2020, https://www.lgbtqiahealtheducation.org/publication/affirmative-services-for-transgender-and-gender-diverse-people-best-practices-for-frontline-health-care-staff/, accessed 11.02.2024. ↩︎
  13. „A National Protocol for Intimate Partner Violence Medical Forensic Examinations“, U.S. Department of Justice Office on Violence Against Women, May 2023, p. 28, accessed 11.01.24.
    https://www.safeta.org/wp-content/uploads/2023/05/IPVMFEProtocol.pdf ↩︎
  14. Ministerium für Soziales, Integration und Gleichstellung, Gesundheitliche Versorgung erwachsener Betroffener von häuslicher und sexualisierter Gewalt in Mecklenburg-Vorpommern, „Ein Leitfaden für die medizinische Praxis. “Ansprechen und Untersuchen – Ansprechen und Untersuchen“, besucht am 13.3.2024. https://www.praxisleitfaden-gewalt.de/index.php/fuer-aerztinnen-und-aerzte/ansprechen-und-untersuchen ↩︎
  15. Ministerium für Soziales, integration und Gleichstellung, Gesundheitliche Versorgung erwachsener Betroffener von häuslicher und sexualisierter Gewalt in Mecklenburg-Vorpommern, „Ein Leitfaden für die medizinische PraxisAnsprechen und Untersuchen – Ansprechen und Untersuchen“, besucht am 13.3.2024. https://www.praxisleitfaden-gewalt.de/index.php/fuer-aerztinnen-und-aerzte/ansprechen-und-untersuchen ↩︎
  16. S.I.G.N.A.L. – Leitfaden, https://www.signal-intervention.de/signal-leitfaden ↩︎
  17. Rhodes KV, Frankel RM, Levinthal N, Prenoveau E, Bailey J, Levinson W. „You’re not a victim of domestic violence, are you?“ Provider patient communication about domestic violence. Ann Intern Med. 2007 Nov 6;147(9):620-7. doi: 10.7326/0003-4819-147-9-200711060-00006. PMID: 17975184; PMCID: PMC2365713. ↩︎
  18. Ashur M. L. (1993). Asking about domestic violence: SAFE questions. JAMA, 269(18), 2367. ↩︎
  19. Ashur M. L. (1993). Asking about domestic violence: SAFE questions. JAMA, 269(18), 2367. ↩︎
  20. Ashur M. L. (1993). Asking about domestic violence: SAFE questions. JAMA, 269(18), 2367. ↩︎
  21. Ashur M. L. (1993). Asking about domestic violence: SAFE questions. JAMA, 269(18), 2367. ↩︎
  22. Ashur M. L. (1993). Asking about domestic violence: SAFE questions. JAMA, 269(18), 2367. ↩︎
  23. www.endgv.org, Working together for gender equity and social justice in King County,
    Screening for Domestic Violence, https://endgv.org/wp-content/uploads/2016/05/Screening-for-Domestic-Violence-00000002.pdf ↩︎
  24. www.endgv.org, Working together for gender equity and social justice in King County,
    Screening for Domestic Violence, https://endgv.org/wp-content/uploads/2016/05/Screening-for-Domestic-Violence-00000002.pdf ↩︎
  25. www.endgv.org, Working together for gender equity and social justice in King County,
    Screening for Domestic Violence, https://endgv.org/wp-content/uploads/2016/05/Screening-for-Domestic-Violence-00000002.pdf ↩︎
  26. www.endgv.org, Working together for gender equity and social justice in King County,
    Screening for Domestic Violence, https://endgv.org/wp-content/uploads/2016/05/Screening-for-Domestic-Violence-00000002.pdf ↩︎
  27. Ashur M. L. (1993). Asking about domestic violence: SAFE questions. JAMA, 269(18), 2367. ↩︎
  28. Ashur M. L. (1993). Asking about domestic violence: SAFE questions. JAMA, 269(18), 2367. ↩︎
  29. Rhodes KV, Frankel RM, Levinthal N, Prenoveau E, Bailey J, Levinson W. „You’re not a victim of domestic violence, are you?“ Provider patient communication about domestic violence. Ann Intern Med. 2007 Nov 6;147(9):620-7. doi: 10.7326/0003-4819-147-9-200711060-00006. PMID: 17975184; PMCID: PMC2365713. ↩︎
  30. Thackeray, J., Livingston, N., Ragavan, M. I., Schaechter, J., Sigel, E., COUNCIL ON CHILD ABUSE AND NEGLECT, & COUNCIL ON INJURY, VIOLENCE, AND POISON PREVENTION (2023). Intimate Partner Violence: Role of the Pediatrician. Pediatrics, 152(1), e2023062509. https://doi.org/10.1542/peds.2023-062509 ↩︎
  31. World Health Organization, Clinical Handbook “Health Care for Women Subjected to Intimate Partner Violence or Sexual Violence”, 2014, p. 19.  
    http://apps.who.int/iris/bitstream/handle/10665/136101/WHO_RHR_14.26_eng.pdf;jsessionid=2BA58E813B52A1105271DB988D1AAC88?sequence=1 ↩︎
  32. World Health Organization, Clinical Handbook “Health Care for Women Subjected to Intimate Partner Violence or Sexual Violence”, 2014.  
    http://apps.who.int/iris/bitstream/handle/10665/136101/WHO_RHR_14.26_eng.pdf;jsessionid=2BA58E813B52A1105271DB988D1AAC88?sequence=1 ↩︎
  33. Ministerium für Soziales, integration und Gleichstellung, Gesundheitliche Versorgung erwachsener Betroffener von häuslicher und sexualisierter Gewalt in Mecklenburg-Vorpommern, „Ein Leitfaden für die medizinische PraxisAnsprechen und Untersuchen – Ansprechen und Untersuchen“, besucht am 13.3.2024. https://www.praxisleitfaden-gewalt.de/index.php/fuer-aerztinnen-und-aerzte/ansprechen-und-untersuchen ↩︎
  34. World Health Organization, Clinical Handbook “Health Care for Women Subjected to Intimate Partner Violence or Sexual Violence”, 2014, p. 19.  
    http://apps.who.int/iris/bitstream/handle/10665/136101/WHO_RHR_14.26_eng.pdf;jsessionid=2BA58E813B52A1105271DB988D1AAC88?sequence=1 ↩︎
  35. Ministerium für Soziales, integration und Gleichstellung, Gesundheitliche Versorgung erwachsener Betroffener von häuslicher und sexualisierter Gewalt in Mecklenburg-Vorpommern, „Ein Leitfaden für die medizinische PraxisAnsprechen und Untersuchen – Ansprechen und Untersuchen“, besucht am 13.3.2024. https://www.praxisleitfaden-gewalt.de/index.php/fuer-aerztinnen-und-aerzte/ansprechen-und-untersuchen ↩︎
  36. Ministerium für Soziales, integration und Gleichstellung, Gesundheitliche Versorgung erwachsener Betroffener von häuslicher und sexualisierter Gewalt in Mecklenburg-Vorpommern, „Ein Leitfaden für die medizinische PraxisAnsprechen und Untersuchen – Ansprechen und Untersuchen“, besucht am 13.3.2024. https://www.praxisleitfaden-gewalt.de/index.php/fuer-aerztinnen-und-aerzte/ansprechen-und-untersuchen ↩︎
  37. World Health Organization, Clinical Handbook “Health Care for Women Subjected to Intimate Partner Violence or Sexual Violence”, 2014.  
    http://apps.who.int/iris/bitstream/handle/10665/136101/WHO_RHR_14.26_eng.pdf;jsessionid=2BA58E813B52A1105271DB988D1AAC88?sequence=1 ↩︎
  38. Ashur M. L. (1993). Asking about domestic violence: SAFE questions. JAMA, 269(18), 2367 ↩︎
  39. Translated and adapted from Schäfers, R. (2012). Gesundheitsförderung durch Hebammen: Fürsorge und Prävention rund um Geburt und Mutterschaft (1st ed.). Schattauer. p. 127. ↩︎
  40. Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ) und der Unabhängigen Beauftragten für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs (UBSKM), Kampagne: „Nicht wegschieben“, accessed 12.01.2024. https://nicht-wegschieben.de/informieren ↩︎
  41. Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ) und der Unabhängigen Beauftragten für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs (UBSKM), Kampagne: „Nicht wegschieben“, accessed 12.01.2024. https://nicht-wegschieben.de/informieren ↩︎
  42. Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ) und der Unabhängigen Beauftragten für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs (UBSKM), Kampagne: „Nicht wegschieben“, accessed 12.01.2024. https://nicht-wegschieben.de/informieren ↩︎
  43. World Health Organization. (2017). Responding to children and adolescents who have been sexually abused: WHO clinical guidelines. World Health Organization. P. 18-19. https://www.who.int/publications/i/item/9789241550147 ↩︎
  44. Standord Medicine, Child Abuse – Screening Children, accessed 25.1.24, https://childabuse.stanford.edu/screening/children.html ↩︎
  45. Thackeray, J., Livingston, N., Ragavan, M. I., Schaechter, J., Sigel, E., COUNCIL ON CHILD ABUSE AND NEGLECT , & COUNCIL ON INJURY, VIOLENCE, AND POISON PREVENTION (2023). Intimate Partner Violence: Role of the Pediatrician. Pediatrics, 152(1), e2023062509. https://doi.org/10.1542/peds.2023-062509 ↩︎
  46. Thackeray, J., Livingston, N., Ragavan, M. I., Schaechter, J., Sigel, E., COUNCIL ON CHILD ABUSE AND NEGLECT , & COUNCIL ON INJURY, VIOLENCE, AND POISON PREVENTION (2023). Intimate Partner Violence: Role of the Pediatrician. Pediatrics, 152(1), e2023062509. https://doi.org/10.1542/peds.2023-062509 ↩︎
  47. Thackeray, J., Livingston, N., Ragavan, M. I., Schaechter, J., Sigel, E., COUNCIL ON CHILD ABUSE AND NEGLECT , & COUNCIL ON INJURY, VIOLENCE, AND POISON PREVENTION (2023). Intimate Partner Violence: Role of the Pediatrician. Pediatrics, 152(1), e2023062509. https://doi.org/10.1542/peds.2023-062509 ↩︎
  48. Thackeray, J., Livingston, N., Ragavan, M. I., Schaechter, J., Sigel, E., COUNCIL ON CHILD ABUSE AND NEGLECT , & COUNCIL ON INJURY, VIOLENCE, AND POISON PREVENTION (2023). Intimate Partner Violence: Role of the Pediatrician. Pediatrics, 152(1), e2023062509. https://doi.org/10.1542/peds.2023-062509 ↩︎
  49. Thackeray, J., Livingston, N., Ragavan, M. I., Schaechter, J., Sigel, E., COUNCIL ON CHILD ABUSE AND NEGLECT , & COUNCIL ON INJURY, VIOLENCE, AND POISON PREVENTION (2023). Intimate Partner Violence: Role of the Pediatrician. Pediatrics, 152(1), e2023062509. https://doi.org/10.1542/peds.2023-062509 ↩︎
  50. Standord Medicine, Child Abuse – Screening Children, accessed 25.1.24, https://childabuse.stanford.edu/screening/children.html  ↩︎
  51. Femi-Ajao, O. (2021). Perception of women with lived experience of domestic violence and abuse on the involvement of the dental team in supporting adult patients with lived experience of domestic abuse in England: a pilot study. International journal of environmental research and public health, 18(4), S.5
    https://www.mdpi.com/1660-4601/18/4/2024 ↩︎
  52. Jailwala, M., Timmons, J. B., Gül, G., Ganda, K. (2016). Recognize the Signs of Domestic Violence. Decisions in Dentistry. Aufgerufen: 13.12.2023
    https://decisionsindentistry.com/article/recognize-the-signs-of-domestic-violence/ ↩︎