Modul 7: Prinzipien interorganisationaler Zusammenarbeit und Risikoanalyse bei Fällen häuslicher Gewalt in multiprofessionellen Teams (Österreich)

  1. Organisationsübergreifende-Zusammenarbeit
  2. Risikobewertung
  3. Zusammenarbeit zwischen Behörden – Fokus auf den Gesundheitssektor
  4. Strafverfahren in Fällen von häuslicher Gewalt
  5. Strafverfahren bei häuslicher Gewalt in Österreich
  6. Exkurs: Häusliche Gewalt in Krisenzeiten- Herausforderungen für behördenübergreifende Zusammenarbeit

Quellen

Lernziele

+ Verstehen der Arbeitsweise von Ersthelfer:innen, insbesondere im medizinischen Bereich.

+ Erkennen, warum die Zusammenarbeit in multiprofessionellen Teams im Fall von häuslicher Gewalt ausschlaggebend ist.

+ Wissen über den Ablauf von polizeilichen Ermittlungen und Strafverfahren bei häuslicher Gewalt.


Dieses Video erklärt, weshalb die Zusammenarbeit in Fällen häuslicher Gewalt von besonderer Bedeutung ist.

1. Organisationsübergreifende Zusammenarbeit1

Die partnerschaftliche Zusammenarbeit mehrerer Einrichtungen ist die wirksamste Art und Weise, auf operativer und strategischer Ebene auf häusliche Gewalt zu reagieren. Aus- und Fortbildung sowie organisatorische Unterstützung und Supervision sind unerlässlich.

Häusliche Gewalt hat schädliche Auswirkungen auf Einzelpersonen, Familien und Beziehungen. Häusliche Gewalt beeinträchtigt Gesundheit und Wohlbefinden von Erwachsenen und Kindern – unabhängig davon, ob sie häusliche Gewalt beobachten oder selbst davon betroffen sind. Sie macht weitere Gesundheits- und Sozialdienstleistungen erforderlich. Alle diese Organisationen und Behörden behandeln die gleichen Probleme auf unterschiedliche Weise, mit verschiedenen Maßnahmen und Ergebnissen.

Kooperation ist insbesondere in Hochrisikofällen unerlässlich, um Lücken im Schutz des Opfers zu vermeiden. Sie ist aber auch in nicht unmittelbar lebensbedrohlichen Fällen wichtig, damit Gewaltopfer sich nicht einer Unzahl von Organisationen und Behörden mit ihren jeweiligen – im schlimmsten Fall widersprüchlichen – Anforderungen gegenübersehen.
Im österreichischen Gewaltschutzsystem können je nach Situation unterschiedliche Einrichtungen involviert sein. Auch regional ergeben sich Unterschiede, da das Angebot an Unterstützungsleistungen nicht überall gleichermaßen ausgebaut ist. Ganz wesentliche Akteur:innen abseits des Gesundheitssektors, die sehr häufig eingebunden sind, sind die folgenden:

Gewaltschutzzentren

Gewaltschutzzentren existieren in allen neun Bundesländern. Sie sind spezialisierte und gesetzlich anerkannte Opferschutzeinrichtungen, die all jenen Menschen Hilfe und Unterstützung bieten, die von Gewalt im eigenen Zuhause, im persönlichen Umfeld oder von Stalking bedroht oder betroffen sind. Verhängt die Polizei ein Betretungs- und Annäherungsverbot gegen eine:n Gefährder:in, muss sie das regionale Gewaltschutzzentrum davon in Kenntnis setzen. Berater:innen nehmen daraufhin aktiv Kontakt zum Opfer auf und bieten Hilfe – z.B. bei rechtlichen Schritten – an. Selbstverständlich können sich Gewaltopfer und Personen, die diese unterstützen, auch direkt an die Gewaltschutzzentren wenden. Durch ihren gesetzlichen Auftrag und ihre Expertise – nicht zuletzt in Bezug auf die systematische Risikobewertung – sind Gewaltschutzzentren die zentralen Drehscheiben für den Opferschutz. Weitere Informationen: https://www.gewaltschutzzentrum.at/

Frauenhäuser

In manchen Situationen bietet ein BV/AV nicht ausreichend Schutz und/oder entspricht nicht der Situation und den Bedürfnissen des Opfers. Frauenhäuser, die eine geschützte Unterkunft in Verbindung mit Beratung bieten, sind daher unverzichtbarer Bestandteil des Gewaltschutzsystems. Wenn Opfer im Frauenhaus Zuflucht suchen, übernehmen meisten die dortigen Mitarbeiter:innen die Koordination der Unterstützungsleistungen.

Weitere Informationen: https://www.aoef.at/, https://frauenhaeuser-wien.at/, https://www.frauenhaeuser.at/ (Steiermark), https://www.ktn.gv.at/Service/Formulare-und-Leistungen/GS-L74 (Kärnten)

Polizei

In vielen Fällen bringt erst ein Polizeieinsatz häusliche Gewalt ans Licht. Polizeibeamt:innen müssen, wenn ihrer Einschätzung nach die Gefahr eines gefährlichen Angriffs besteht, Gefährder:innen aus der Wohnung weisen und ein 14-tätiges Betretungs- und Annäherungsverbot (BV/AV) aussprechen. In dieser Zeit darf der:die Gefährder:in die Wohnung, in der das Opfer lebt, nicht betreten und sich der Person nicht auf weniger als 100 Meter nähern. Ein BV/AV bedeutet also auch, dass Gefährder:innen sich Opfern im Krankenhaus nicht nähern dürfen. In den meisten Fällen wird von der Polizei zudem Anzeige – meist wegen Körperverletzung – erstattet und ein Ermittlungsverfahren eingeleitet. Das gilt auch, wenn sich eine gewaltbetroffene Person direkt an die Polizei wendet, um Anzeige zu erstatten. Für die weitere Bearbeitung von Fällen häuslicher Gewalt und die Zusammenarbeit mit anderen Organisationen gibt es auf allen Polizeikommissariaten speziell geschulte Präventionsbeamt:innen.

Kinder- und Jugendhilfe

Wenn in einem Haushalt, in dem ein BV/AV verhängt wurde, Kinder leben, ist die Polizei verpflichtet, die Kinder- und Jugendhilfe zu informieren. Dort wird in der Folge ein Prozess zur Abklärung einer möglichen Kindeswohlgefährdung eingeleitet, im Zuge dessen u.a. Kontakt mit Opfer und Täter:in aufgenommen wird.

Beratungsstellen für Gewaltprävention

Gefährder:innen, gegen die ein BV/AV verhängt wurde, sind verpflichtet, sich binnen fünf Tagen bei einer Beratungsstelle für Gewaltprävention zu melden und eine Beratung in Anspruch zu nehmen. Wird dieser Verpflichtung nicht nachgekommen, stellt das eine Verwaltungsübertretung dar.

Weitere Informationen: https://www.gewaltinfo.at/themen/geschlechtsspezifische-burschen-und-maennerarbeit/gewaltpraeventionsberatung—ein-neuer-baustein-im-oesterreichischen-gewaltschutz.html

Fallspezifisch können viele weitere Organisationen beteiligt sein – zum Beispiel Frauenberatungseinrichtungen und Kinderschutzzentren.

Für den medizinischen Bereich ist besonders die Etablierung klarer Ansprechpersonen wichtig. Das gilt sowohl innerhalb der jeweiligen Einrichtung, wo meist Personen aus den Opferschutzgruppen (OSG) diese Funktion übernehmen, als auch für die Kooperation mit externen Einrichtungen.


Prinzipien einrichtungsübergreifender Zusammenarbeit

Um eine erfolgreiche Kooperation zu gewährleisten, müssen Prinzipien entwickelt und vereinbart werden, auf die sich alle Beteiligten einigen können. Die unten aufgeführten Punkte können Fachleuten und Organisationen dabei helfen, Grundsätze für eine funktionierende Zusammenarbeit zu etablieren.

  • Verstehen, dass ohne wirksame Prävention und frühzeitige Intervention häusliche Gewalt oft eskaliert. Deshalb ist es wichtig, alle Anstrengungen zu unternehmen, um Erwachsene und Kinder als Opfer von häuslicher Gewalt möglichst rasch zu erkennen und zu unterstützen.
  • Bei möglichen Interventionen immer die Sicherheit der Opfern und ihrer Kinder priorisieren.
  • Risikosituationen  zu erkennen: In bestimmten Situationen (z. B. Trennung, Hilfesuche, Schwangerschaft) sind Opfer von Partnergewalt besonders gefährdet.
  • Vertraulichkeit und Privatsphäre respektieren, wo immer möglich; die Risiken verstehen, die mit dem Informationsaustausch im Zusammenhang mit häuslicher Gewalt verbunden sind.
  • Gewährleisten, dass Gewaltopfer mit Respekt und Würde behandelt werden, indem man ihnen zuhört, ihren Berichten Glauben schenkt und ihnen versichert, dass sie niemals selbst schuld an der Gewalt sind.
  • Ermächtigen Sie Betroffene, gut informierte Entscheidungen für sich selbst zu treffen, wo immer möglich. Treffen Sie keine Entscheidungen für sie ohne ihre Beteiligung.
  • Bei der ersten Kontaktaufnahme mit den anderen eingebundenen Einrichtungen die informierte Zustimmung des Opfers einholen, um sicherzustellen, dass Informationen zwischen allen Akteuren bei Bedarf ohne Verzögerung ausgetauscht werden können.
  • Informationen über Patient:innen in der medizinischen und zahnmedizinischen Versorgung unterliegen der Schweigepflicht. Es ist wichtig zu wissen, wann Sie die interne und externe Schweigepflicht brechen dürfen bzw. müssen.
  • Alle Vorfälle häuslicher Gewalt sollten erfasst, analysiert und regelmäßig in anonymisierter Form mit den Verantwortlichen der kooperierenden Einrichtungen geteilt werden.
  • Gemeinsame Richtlinien und Verfahren für den Informationsaustausch zwischen den verschiedenen Organisationen entwickeln.
  • Sicherstellen, dass alle Einrichtungen auf die unterschiedlichen Bedürfnisse der Opfer eingehen. Dabei sind zu berücksichtigen: Alter, Geschlecht, Herkunft oder ethnische Zugehörigkeit, Religion oder Weltanschauung, sexuelle Orientierung, Behinderung oder andere Merkmale. Erkennen, dass solche Unterschiede nicht als Entschuldigung oder Rechtfertigung für häusliche Gewalt oder andere schädliche Praktiken dienen dürfen.
  • Ermutigen Sie die Zusammenarbeit mit Täter:inneneinrichtungen, um Risiken auf multiprofessioneller Basis zu bewerten und neue Gewalttaten zu verhindern.
Herausforderungen der einrichtungsübergreifenden Zusammenarbeit 2

Grundsätzlich haben verschiedene Einrichtungen unterschiedliche organisatorische Aufgaben, Visionen, Werte, Ziele und Absichten. Sie können auch unterschiedliche Regeln, Vorschriften und Arbeitsmechanismen haben. Dies kann eine effektive Zusammenarbeit erschweren.

Ein gutes Beispiel dafür sind die Unterschiede in den Definitionen und Bezeichnungen, die verwendet werden, um sich auf gewaltbetroffene Personen zu beziehen: im Strafrechtssystem ist von Opfern die Rede, Schutzeinrichtungen für Frauen sprechen gelegentlich von „Überlebenden“, im Gesundheitssystem ist die Rede von „Patientinnen und Patienten“. In der Arbeit mit Täter:innen wird ebenfalls der Opferbegriff im strafrechtlichen Sinne verwendet, es kann sich aber auch  allgemein um „Klienten und Klientinnen“ handeln.

Die von verschiedenen Behörden und Einrichtungen gesammelten Daten sind im Regelfall nicht vergleichbar: aufgrund von Unterschieden in der Art der Daten, in deren Erfassung oder in der Datenspeicherung. Es kann auch Unterschiede im Verständnis dessen geben, was häusliche Gewalt ausmacht und was ihre Auswirkungen sind. Eine hohe Personalfluktuation ist ebenfalls ein Hindernis und beeinträchtigt die Kommunikation.

Einrichtungen kommunizieren nicht immer miteinander oder dürfen aus datenschutzrechtlichen Gründen keine Informationen austauschen. Folglich muss das Gewaltopfer sämtliche Erfahrungen, einschließlich der Einzelheiten von erlebtem Missbrauch, wiederholt schildern. Die Erinnerung an das Erlebte kann für Opfer traumatisch sein und sie folglich davon abhalten, Unterstützung in Anspruch zu nehmen.


2. Risikobewertung

Die Risikobewertung ist ein wichtiger Baustein der Prävention von häuslicher Gewalt.3 Ihr Ziel ist es, weitere Gewalttaten zu verhindern, indem das Rückfallrisiko des Täters/der Täterin4, Umstände, die das Gewaltrisiko erhöhen können, und die Gefährdungsfaktoren für das Gewaltopfer sowie die Umsetzung von Schutzmaßnahmen ermittelt werden.


Eine Risikobewertung ist für die Sicherheitsplanung und für das Management des vorhandenen Risikos erforderlich. Das sind die wichtigsten Punkte:

  • Es ist wichtig, Opfern dabei zu helfen ihre gegenwärtige und zukünftige Sicherheit sowie die ihrer Kinder einzuschätzen.
  • Opfer von häuslicher Gewalt wollen sich oft nicht sofort an spezialisierte Einrichtungen oder die Polizei wenden. Daher ist es wichtig, dass medizinisches Fachpersonal über Wissen zur Risikobewertung ebenso wie zum Umgang mit Gewaltopfern und deren Unterstützung verfügt. Es ist jedoch nicht notwendig, eine umfassende Risikobewertung durchzuführen.
  • Eine umfassende Risikobewertung beinhaltet das Sammeln sachdienlicher Informationen über das häusliche Umfeld, das Erfragen der Risikowahrnehmung des Gewaltopfers und eine professionelle Einschätzung der aktuellen Risikofaktoren.5 Dies wird in der Regel von Opferschutzeinrichtungen (Gewaltschutzzentren) durchgeführt.
  • Eine Risikobewertung und ein klarer Ablauf der Überweisung von verletzten Patient:innen zu weiteren Maßnahmen nach einem Aufenthalt in der Notaufnahme sind erforderlich. Von häuslicher Gewalt zu erfahren ist mit Melde-, Mitteilungs- und Anzeigepflichten verbunden, die je nach Berufsgruppe unterschiedlich sind.
  • Dies betrifft die Melde- und Mitteilungspflichten von pädagogischen und psychosozialen Berufsgruppen bei Verdacht auf unmittelbare Selbst- oder Fremdgefährdung und bei Kindeswohlgefährdung.
  • Auch für medizinische Berufe gelten Melde- und Anzeigepflichten, die in den jeweiligen Berufsgesetzen geregelt sind.

Darauf sollten Sie achten:

  • Verfolgen Sie einen opferzentrierten Ansatz.
  • Verfolgen Sie einen geschlechtersensiblen Ansatz.
  • Verfolgen Sie einen intersektionalen Ansatz: Bei der Ermittlung der individuellen Sicherheitsbedürfnisse von Gewaltopfern werden die Besonderheiten jedes Einzelfalls berücksichtigt, einschließlich des Geschlechts und der Geschlechtsidentität von Opfern, der ethnischen Zugehörigkeit, der Herkunft, der Religion, der sexuellen Ausrichtung, einer Behinderung, des Aufenthaltsstatus, Sprachbarrieren, Beziehung zum Täter/der Täterin oder der Abhängigkeit von ihm/ihr und früherer Straftaten. 6
Dieses Video ist eine Einführung in die Techniken der Risikobewertung bei der Arbeit mit Frauen und Kindern, die Gewalt erleben. Es sollte in Verbindung mit der Einführung in die Sicherheitsplanung Risikobewertung verwendet werden.
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Es wird dringend empfohlen, ein standardisiertes Instrument für die Risikobewertung zu verwenden, anstatt sich auf das „Bauchgefühl“ zu verlassen. Es gibt unterschiedliche standardisierte Instrumente, welche von den Gewaltschutzzentren, der Polizei und teilweise in Krankenhäusern  genutzt werden.

Hochrisikofällen kann die Polizei sicherheitspolizeiliche Fallkonferenzen einberufen, andere Einrichtungen können solche Konferenzen anregen. Dort werden Schutzmaßnahmen entwickelt und aufeinander abgestimmt. Im Sinn einer In effizienten Zusammenarbeit ist im Rahmen der Fallkonferenzen die Weitergabe von personenbezogenen Daten erlaubt.


Hier folgt eine Darstellung der international am häufigsten eingesetzten Instrumente. Sie wurden grundsätzlich für die Konstellation weibliches Opfer – männlicher Täter entwickelt, vereinzelt erfolgten später Adaptierungen für lesbische Beziehungen (DA) bzw. Beziehungen zwischen LGBTIQ+-Personen (DASH).

Danger Assessment (DA) 8 9
  • Damit kann der Grad der Gefahr bestimmt werden, dass eine gewaltbetroffene Frau von ihrem Partner getötet wird.
  • Das Instrument besteht aus zwei Teilen: einem Kalender und einem 20-Punkte-Bewertungsinstrument. Der Kalender hilft bei der zeitlichen Beurteilung der Schwere und Häufigkeit der Misshandlungen im vergangenen Jahr. Der Kalenderteil wurde konzipiert, um das Bewusstsein des Opfers zu schärfen und das Leugnen und Bagatellisieren von Gewalt zu verringern, zumal die Verwendung eines Kalenders das Erinnerungsvermögen in anderen Situationen erhöht.
  • Das Instrument, bestehend aus 20 Fragen, verwendet ein gewichtetes System zur Bewertung von Ja/Nein-Antworten auf abgefragte Risikofaktoren im Zusammenhang mit Tötungsdelikten an Intimpartnerinnen. Zu diesen Risikofaktoren gehören frühere Morddrohungen, der Beschäftigungsstatus des Partners und dessen Zugang zu einer Waffe.

Weitere Informationen: https://www.dangerassessment.org/About.aspx

Leitfaden zur Risikobewertung bei häuslicher Gewalt (DVRAG) 10

Der Leitfaden zur Risikobewertung bei häuslicher Gewalt (Domestic Violence Risk Appraisal Guide, DVRAG) enthält die gleichen Punkte wie die Risikobewertung bei häuslicher Gewalt in Ontario (Ontario Domestic Assault Risk Assessment, ODARA), berücksichtigt aber auch die Ergebnisse der überarbeiteten Psychopathie-Checkliste (PCL-R). Der DVRAG ist ein versicherungsmathematisches Instrument mit 14 Fragen, mit dem die Wahrscheinlichkeit von Partnergewalt gegen eine weibliche Partnerin bewertet wird. Beide Instrumente können die Geschwindigkeit und Anzahl erneuter Übergriffe und die Schwere der dadurch verursachten Verletzungen vorhersagen.11

Der DVRAG setzt Zugang zu vertiefenden Informationen sowie Wissen um spezifische Prognosemethodiken voraus.

Weitere Informationen: https://www.krimz.de/fileadmin/dateiablage/E-Publikationen/BM-Online/bm-online8.pdf

DASH Risk Risikobewertung 12

DASH steht für häusliche Gewalt, Stalking und „Ehre“-basierte Gewalt. Das Risikobewertungsinstrument war das Ergebnis der Dokumentation von 47 Tötungsdelikten in Beziehungen und in der Familie sowie der Katalogisierung der wichtigsten Risikovariablen zur Entwicklung des CAADA – DASH-Risikomodells. Zweck der DASH-Risiko-Checkliste ist es, Praktiker:innen, die mit erwachsenen Opfern von häuslicher Gewalt arbeiten, ein konsistentes und einfaches Instrument an die Hand zu geben.

Weitere Informationen: https://www.dashriskchecklist.com/

Video zur Einführung in die Risikoermittlung bei häuslicher Gewalt unter Verwendung der DASH-RIC-Checkliste (in Englisch).

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Hier geht es zu einem Erklärvideo.
BIG 26 13

Das Domestic Abuse Intervention Program (DAIP) in Duluth, Minnesota, USA, hat 26 Fragen entwickelt, um die Gefährlichkeit eines Täters einzuschätzen. Das Modell von Duluth betont die Bedeutung einer institutionenübergreifenden Zusammenarbeit und einer koordinierten Reaktion auf Gewalt.

Weitere Informationen: https://www.theduluthmodel.org/

DyRiAS-Intimpartner 14

DyRiAS steht für Dynamisches Risiko Analyse System. Seit Januar 2012 wird das DyRiAS-Intimpartner in Deutschland, Österreich und der Schweiz verwendet. Das Instrument misst das Risiko für schwere Gewalttaten gegen die Intimpartnerin. In einer eigenen Skala wird zusätzlich das Risiko für leichte bis mittelschwere körperliche Gewalt erfasst. DyRiAS-Intimpartner eignet sich ausschließlich für Gewalt in heterosexuellen Beziehungen, ausgehend vom männlichen (ehemaligen) Partner. Dabei ist die Dauer der aktuellen oder früheren Beziehung unwesentlich und kann von einer kurzen bis hin zu einer langjährigen Beziehung reichen. Insgesamt umfasst DyRiAS-Intimpartner 39 Items.

Weitere Informationen: https://www.dyrias.com/de/

Bitte beachten Sie, dass die meisten Risikobewertungen die Aspekte Geschlecht/Gender nicht ausdrücklich berücksichtigen. Oftmals sind in diesen Instrumenten entweder beide Geschlechter in den Checklisten nicht vorgesehen oder es wird ausschließlich die männliche Form verwendet, wenn von Täter:innen die Rede ist. Hier finden Sie weitere Informationen.


3. Zusammenarbeit zwischen Behörden – Fokus auf den Gesundheitssektor

Das folgende Video stellt die Situation in Deutschland dar, die in einigen Details von der österreichischen abweicht. Die Grundsätze der organisationsübergreifenden Zusammenarbeit sind jedoch auf Österreich übertragbar.

Beschreibung: Das Video stellt den fiktiven Fall „Rita“ vor. Es zeigt, wie die Zusammenarbeit zwischen Ersthelfer:innen, einschließlich medizinischem Fachpersonal, Nichtregierungsorganisationen (NGOs), Polizei und Sozialarbeiter:innen idealerweise aussehen kann.

Zu den zahlreichen Fachleuten und Einrichtungen, die für die Unterstützung von Opfern von häuslicher Gewalt von Bedeutung sein können, gehören unter anderem – aber nicht ausschließlich – Polizei, Gewaltschutzzentren, praktische und Fachärzt:innen, Kinder- und Jugendhilfe, psychosoziale Dienste, Opferschutzeinrichtungen für Betroffene von sexueller Gewalt, Sozialämter, Einrichtungen für Drogenmissbrauch, Wohnberatungen/Wohnungsämter.


Angehörige der Gesundheitsberufe tragen eine große Verantwortung, wenn es darum geht, Fälle von häuslicher Gewalt zu erkennen und zu bekämpfen.

Fünf Schlüsselthemen tragen dazu bei, Angehörige der Gesundheitsberufe darauf vorzubereiten, wirksam gegen häusliche Gewalt vorzugehen:

1. Engagement zeigen
2. Eine parteiliche Haltung einnehmen
3. Aufbau vertrauensvoller Beziehungen
4. Zusammenarbeit im Team
5. Die Unterstützung durch das Gesundheitssystem

Diese Elemente bilden die Grundlage des CATCH-Modells, das für Engagement, Sich-Einsetzen für Gewaltopfer, Vertrauen, Zusammenarbeit und Unterstützung durch das Gesundheitssystem (im Englischen: Commitment, Advocacy, Trust, Collaboration, Health System Support) steht.

Das CATCH-Modell hilft zu verstehen, wie organisationale Strukturen die Bereitschaft medizinische Fachkräfte Gewaltopfer zu unterstützen prägen.  Daraus lassen sich in weiterer Folge Schritte für die Organisationsentwicklung ableiten. Es kann außerdem Trainer:innen dabei unterstützen maßgeschneiderte Angebote für die jeweiligen Einrichtungen und ihre Mitarbeiter:innen zu entwickeln.


4. Strafverfahren in Fällen von häuslicher Gewalt

Das sind die einzelnen Schritte vom Gewaltvorfall bis zum Gerichtsverfahren.

  • Häusliche Gewalt tritt auf: Gewalt erfolgt durch einen (ehemaligen) Partner oder ein Familienmitglied. Dabei kann es sich um verschiedene Formen von Gewalt handeln, darunter körperliche, psychische, sexuelle, digitale oder finanzielle.
  • Die Polizei ist verpflichtet, bei unmittelbar bevorstehender Gewalt ein Betretungs- und Annäherungsverbot (auf 100 Meter) gegen den:die Gefährder:in zu verhängen. Dieses bleibt 14 Tage lang aufrecht.
  • Strafanzeige: Die Anzeige des Vorfalls, die häufig durch die gewaltbetroffene Person selbst erfolgt, dient als formale Einleitung des Strafverfahrens. Eine Anzeige zu erstatten, kann für die Betroffenen eine schwierige Entscheidung sein, und wenn ein Opfer keine Anzeige erstatten möchte, sollte das respektiert werden. Die Anzeige kann jedoch ein wichtiger Schritt sein, um Hilfe zu erhalten und die Täter:innen zur Rechenschaft zu ziehen. Wenn die Polizei von einer Straftat erfährt, muss sie diese verfolgen (Offizialprinzip), auch wenn das Opfer keine Anzeige erstatten möchte.
  • Gewaltopfer haben das Recht auf psychosoziale und juristische Prozessbegleitung, d.h. sie können bereits bei der polizeilichen Einvernahme durch Mitarbeiter:innen von Opferschutzeinrichtungen begleitet werden.
  • Polizeiliche Erhebungen und Dokumentation: Zunächst werden die Aussagen des Opfers, von Zeug:innen und des/der Tatverdächtigen aufgenommen. Außerdem muss die Polizei weitere Beweise wie Fotos von Verletzungen sammeln und alle relevanten Dokumente oder Gegenstände sicherstellen, die vor Gericht als Beweismittel verwendet werden könnten.
  • Unterstützung: Dem Gewaltopfer wird Unterstützung und Schutz angeboten. Dies kann etwa die akute medizinische Versorgung von Verletzungen, die Information über Opferschutzeinrichtungen oder die Begleitung zu einem Frauenhaus umfassen. Unterstützung ist wichtig, um die emotionalen und praktischen Bedürfnisse der gewaltbetroffenen Person in dieser schwierigen Zeit zu erfüllen.
  • Strafverfolgung: Die Polizei übermittelt sämtliche Beweismittel an die Staatsanwaltschaft. Diese entscheidet, ob sie das Verfahren einstellt oder einen Strafantrag einbringt bzw. Anklage gegen den mutmaßlichen Täter/die mutmaßliche Täterin erhebt.

5. Strafverfahren bei häuslicher Gewalt in Österreich

Opfern von häuslicher Gewalt stehen mehrere Wege offen, Anzeige zu erstatten. Sie können die Polizei direkt telefonisch über die Nummer 133 kontaktieren oder eine Polizeistation aufsuchen. Sie können sich aber auch als ersten Schritt an eine Opferschutzorganisation – insbesondere an ein Gewaltschutzzentrum – wenden, um bei der Anzeigeerstattung begleitet und unterstützt zu werden. Verletzte Opfer, die ein Krankenhaus aufsuchen, werden dort von der Opferschutzgruppe betreut, die außerdem forensische Beweise sichert.

Die polizeiliche Reaktion auf häusliche Gewalt wurde erstmalig durch das Gewaltschutzgesetz 1997 normiert, darauf folgten das 2. Gewaltschutzgesetz 2009 sowie das 3. Gewaltschutzgesetz 2019. Wichtige Eckpfeiler des Gewaltschutzes sind:

  • Als Schutzmaßnahme bei unmittelbar bevorstehender Gewalt verhängt die Polizei ein Betretungs- und Annäherungsverbot (§ 38a SPG), das Gefährder:innen zwei Wochen lang untersagt, sich der gefährdeten Person bzw. deren Wohnort zu nähern. Die Schutzperiode verlängert sich auf vier Wochen, wenn die gefährdete Person beim Familiengericht eine Einstweilige Verfügung für einen längerfristigen Schutz (sechs bis zwölf Monate) beantragt. Es bestehen gesetzliche Maßnahmen zum Schutz vor Gewalt in Wohnungen (§ 382b EO) und zum Schutz vor allgemeiner Gewalt (§ 382c EO), die auch gemeinsam beantragt werden können.
  • Die einschreitenden Polizeibeamt:innen sind verpflichtet, die gefährdete Person über ihre Rechte und Möglichkeiten zu informieren, dazu zählen etwa die Unterstützung durch ein Gewaltschutzzentrum und das Angebot der Prozessbegleitung.
  • Betretungs- und Annäherungsverbote müssen von der Polizei umgehend an das zuständige Gewaltschutzzentrum übermittelt werden. Dieses kontaktiert die gefährdete Person und bietet psychosoziale und rechtliche Unterstützung an. In der Folge werden ein Sicherheitsplan und eine Gefährdungseinschätzung erstellt, gegebenenfalls erfolgt Hilfestellung bei einem Antrag auf Einstweilige Verfügung, auf soziale Sicherung o.ä.Gefährder:innen, gegen die ein Betretungs- und Annäherungsverbot ausgesprochen wurde, sind dazu verpflichtet, eine Beratungsstelle für Gewaltprävention aufzusuchen.
  • Wenn im Haushalt Kinder leben, muss die Polizei auch die Kinder- und Jugendhilfe sowie Schulen und Kinderbetreuungseinrichtungen über das Betretungs- und Annäherungsverbot informieren.

Das österreichische Strafgesetz kennt keine ausdrückliche Kriminalisierung von häuslicher Gewalt, nennt aber die Begehung von vorsätzlichen Straftaten im Familienkreis explizit als Erschwerungsgrund bei der Strafbemessung (§ 33 Abs.2 StGB). Bei Gewaltdelikten handelt es sich um Offizialdelikte, d.h. die Polizei ist grundsätzlich – unabhängig von den Wünschen des Opfers – verpflichtet, Anzeige zu erstatten.

Wenn ein Verdacht auf Kindeswohlgefährdung vorliegt, besteht für verschiedene Einrichtungen eine Mitteilungspflicht an die Kinder- und Jugendhilfe. Das betrifft unter anderem Gerichte und Behörden, das Schulwesen und das Gesundheitswesen (§ 38 Bundes-Kinder- und Jugendhilfegesetz 2013).

Seit 2006 haben Opfer von vorsätzlich begangenen Gewalttaten und von gefährlicher Drohung Anspruch auf psychosoziale und juristische Prozessbegleitung im Strafverfahren sowie in daraus resultierenden Zivilverfahren. Psychosoziale Prozessbegleitung soll dabei helfen, die Belastung durch das Verfahren zu minimieren sowie verfügbare Unterstützung und rechtliche Möglichkeiten besser auszuschöpfen. Dazu zählen etwa die Begleitung zu Polizei und Gericht oder das Erklären von rechtlichen Schritten. Die Prozessbegleitung wird vom Bundesministerium für Justiz finanziert und von Opferschutzeinrichtungen durchgeführt.

Eckpunkte des Strafverfahrens:

  • Das Strafverfahren beginnt mit dem Ermittlungsverfahren, das die Staatsanwaltschaft in Zusammenarbeit mit der Kriminalpolizei leitet. Ziel ist die Aufklärung des Sachverhalts bzw. eines Tatverdachts durch Ermittlungen. In dieser Phase werden etwa Zeug:innen, auch das Opfer, einvernommen. Nach Vorlage des Abschlussberichts durch die Polizei entscheidet die Staatsanwaltschaft über das weitere Vorgehen, insbesondere Verfahrenseinstellung oder Anklageerhebung/Strafantrag.
  • Eine Einstellung des Strafverfahrens kann aus verschiedenen Gründen erfolgen. Der häufigste Grund liegt darin, dass die Staatsanwaltschaft keine strafrechtlich relevanten Handlungen wahrnimmt. Auch im Fall einer gelungenen Diversion (v.a. Tatausgleich) wird das Strafverfahren eingestellt. Unter bestimmten, eng gefassten Voraussetzungen kann das Opfer einen Antrag auf Fortführung des Ermittlungsverfahrens stellen (§ 195 StPO).
  • Das Hauptverfahren beginnt mit der Einbringung der Anklage. In der Hauptverhandlung werden der:die Angeklagte und Zeug:innen einvernommen sowie Sachbeweise vorgelegt. Häufig sagt das Opfer nicht in der Hauptverhandlung aus, sondern bereits vorher im Zuge einer kontradiktorischen Einvernahme. Damit wird ein Zusammentreffen mit dem:der Angeklagten verhindert. Psychosoziale und juristische Prozessbegleitung stehen auch hier zur Verfügung. Wenn das Opfer einen Schadenersatzanspruch gegen den:die Angeklagte:n hat, muss dieser meist in einem Zivilverfahren eingeklagt werden.

Die Unterstützungsleistungen für Opfer von Gewalt enden nicht mit der Urteilsverkündung. So wird etwa im Rahmen der psychosozialen Prozessbegleitung eine Abschlussbesprechung angeboten. Opfer von Partnergewalt oder von Zwangsehe Betroffene, deren Aufenthaltstitel vom Täter/von der Täterin abhängt, erhalten in der Regel eine einjährige Aufenthaltserlaubnis (§ 27 NAG).



6. Exkurs: Häusliche Gewalt in Krisenzeiten- Herausforderungen für behördenübergreifende Zusammenarbeit

Quarantäne, Einschränkungen im täglichen Leben, geschlossene Schulen, Homeoffice, Kurzarbeit, finanzielle Sorgen und Zukunftsängste – all diese Faktoren können zu erhöhtem Stress in Beziehungen und im Familienleben führen. Als Beispiel wird hier an Beobachtungen aus der COVID-19-Phase erinnert:

Am 16. März 2020 wurde wegen der Risiken der COVID-19-Pandemie von den Behörden ein bundesweiter Lockdown angeordnet. Bis Ende 2021 folgten drei weitere sowie zusätzliche regional begrenzte Maßnahmen. Homeoffice und Online-Unterricht wurden eingeführt, phasenweise blieben auch Kinderbetreuungseinrichtungen geschlossen, der Aufenthalt im öffentlichen Raum wurde drastisch eingeschränkt, das soziale Leben kam zum Erliegen.

Einige Risikofaktoren für die Zunahme von häuslicher Gewalt waren:
  • Gesundheitliche und psychische Probleme können sich während eines Lockdowns verstärken, da gesundheitsrelevante Serviceleistungen nur eingeschränkt zugänglich sind. Dies kann sich wiederum negativ auf den Gesundheitszustand Einzelner auswirken, ihr Stressniveau erhöhen und eine Zunahme gewalttätiger Übergriffe begünstigen.
  • Mit wirtschaftlichrn Unsicherheit oder Arbeitslosigkeit gehen finanzielle Sorgen einher, die destruktive Bewältigungsmechanismen verstärken können.
  • Gewalt hat immer auch etwas mit Machtanspruch zu tun. In Zeiten von Krise und Isolation und damit verbundener gefühlter Hilflosigkeit, Kontrollverlust und Machtlosigkeit ist Gewalt vermeintlich ein Mittel, um Kontrolle und Macht zurückzugewinnen.
  • Sprachbarrieren, Schließungen von Anlaufstellen oder die eingeschränkte Präsenz von Sozialarbeitenden aufgrund der Schutzmaßnahmen erschweren den Zugang zu Unterstützungsangeboten deutlich.
  • Opfer von häuslicher Gewalt zögerten zudem aus Angst, sich mit COVID-19 anzustecken, Unterstützungsangebote in Anspruch zu nehmen.
  • Die soziale Distanzierung kann die sozialen Kontakte Einzelner so stark einschränken, dass es Gewaltopfer ohne die Nähe und Ermutigung von Bezugspersonen nicht wagen, Hilfe zu suchen. Ebenso werden Bezugspersonen, Bekannte oder Außenstehende wie Arbeitgeber:innen oder pädagogische Fachkräfte nicht auf Gewalt aufmerksam und können nicht unterstützend agieren. Andererseits sind Nachbarn und Nachbarinnen wachsamer und präsenter und aufgrund der Ausgangsbeschränkungen als protektiver Faktor zu berücksichtigen. 16

Empfehlungen zur Bekämpfung und besseren Erkennung von häuslicher Gewalt während der Pandemie

Die Lockdown-Maßnahmen zur Eindämmung des Coronavirus im Frühjahr 2020 rückten auch das Thema der häuslichen Gewalt vermehrt in die öffentliche und polizeiliche Aufmerksamkeit. In den Medien, von der Politik und von NGOs wurde mehrheitlich berichtet, dass unter den Corona-Bedingungen vor allem Frauen und Kinder verstärkt Gewalt erfahren würden. Das Europäische Institut für Gleichstellungsfragen (EIGE) hatte Forderungen an die EU und ihre Mitgliedstaaten unterstützt, die COVID 19-Pandemie als Gelegenheit zu nutzen, ihre Bemühungen zum Schutz der Frauenrechte zu verstärken. 17

Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) und die UN-Frauen unterstrichen die Bedeutung der Datenerhebung während der COVID-19-Pandemie. Sie sei ein entscheidendes Instrument, um nachteilige Auswirkungen auf gewaltbetroffene Frauen und Mädchen wahrzunehmen und Präventionsstrategien für künftige Krisen zu entwickeln. 18 19 Für die Zukunft sei es von entscheidender Bedeutung, dass die Forschung kurz- und längerfristige politische und praktische Antworten liefert.

Folgende Empfehlungen wurden formuliert:

  • Strafverfolgungsbehörden müssen sicherstellen, dass Vorfälle häuslicher Gewalt hohe Priorität erhalten und dass die im Zusammenhang mit COVID-19 auftretenden Gewaltmanifestationen bekämpft werden.
  • Der Gesundheitssektor muss den Opfern von häuslicher Gewalt stets den Zugang zu Informationen und Dienstleistungen im Bereich der sexuellen und reproduktiven Gesundheit gewährleisten.
  • Unterstützungseinrichtungen des sozialen Sektors sollten verstärkt Online-Krisenangebote wie Hotlines und Chats ausbauen. Notfallbetreuungen/Tagesbetreuungen sollten auf alle Familien ausgeweitet werden – nicht nur auf Elternteile, die in systemrelevanten Berufen tätig sind.
Wie können Opfer von häuslicher Gewalt während einer Pandemie unterstützt werden?
  • Wenn sich Gewaltopfer nicht an die Polizei oder Hilfseinrichtungen wenden wollen, weil sie den staatlichen Institutionen nicht vertrauen oder bereits schlechte Erfahrungen gemacht haben, kann mit Hilfetelefonen oder -chats der erste Schritt aus der Gewaltsituation getan werden, falls das zu Hause gefahrlos möglich ist. Weitere Hilfe wird dann möglich.
  • Es ist wichtig, Gewaltopfern immer wieder bewusst zu machen, dass die Schuld nie bei ihnen liegt und dass das, was gerade passiert, Unrecht ist. Eine klare Stellungnahme und Verurteilung der Gewalt in den Medien – gerade in Pandemiezeiten – kann helfen, dass die Opfer sich weitere Unterstützung suchen.
  • Die Sorge vor den wirtschaftlichen Folgen einer Trennung kann es Opfern erschweren, sich von ihrem Partner/ihrer Partnerin zu trennen: Manche sind finanziell vom Partner/der Partnerin abhängig, beispielsweise weil sie aufgrund der Pflege von Familienmitgliedern und der Kinderbetreuung nicht mehr in vollem Umfang einer bezahlten Arbeit nachgehen können, oder weil sie im Zuge der COVID-19-Pandemie entlassen wurden.
  • Schriftliche Informationen über Gewalt in Paarbeziehungen und häusliche Gewalt sollten im öffentlichen Raum in Form von Plakaten und Broschüren oder Faltblättern verfügbar sein, die in geschützten Bereichen wie Waschräumen aufgelegt werden (mit entsprechenden Warnungen, sie nicht mit nach Hause zu nehmen, wenn sich dort der/die Täter:in aufhält). Das Anbieten eines QR-Codes, der zu einer Website mit weiteren Informationen führt, kann hier Abhilfe leisten. Die Plakate, Broschüren oder Faltblätter sollten sich an weibliche und männliche Opfer von häuslicher Gewalt richten und keine Stereotype bedienen. Die Benennung konkreter Ansprechpersonen vor Ort und die Breitstellung von Telefonnummern von Beratungsstellen oder Internetseiten, die (anonyme) Beratung anbieten, können einen Beitrag dazu leisten, dass sich Opfer von häuslicher Gewalt Hilfe suchen.

Quellen

  1. https://www.improdova.eu/pdf/IMPRODOVA_D2.4_Gaps_and_Bridges_of_Intra-_and_Interagency_Cooperation.pdf?m=1585673383& ↩︎
  2. https://www.improdova.eu/pdf/IMPRODOVA_D2.4_Gaps_and_Bridges_of_Intra-_and_Interagency_Cooperation.pdf?m=1585673383& ↩︎
  3. Kropp, P. R. (2004). Some Questions Regarding Spousal Assault Risk Assessment. Violence Against Women, 10(6), 676–697. https://doi.org/10.1177/1077801204265019  ↩︎
  4. Svalin, K. & Levander, S. (2019). The Predictive Validity of Intimate Partner Violence Risk Assessments Conducted by Practitioners in Different Settings—a Review of the Literature. Journal of Police and Criminal Psychology. 35. https://doi.org/10.1007/s11896-019-09343-4. ↩︎
  5. Mann, L., & Tosun, Z. (2020, October 23). ASSESSING AND MANAGING RISKS IN CASES OF VIOLENCE AGAINST WOMEN AND DOMESTIC VIOLENCE. Council of Europe, p. 9. ↩︎
  6. EIGE “Risk assessment and risk management – Principle 4: Adopting an intersectional approach”, accessed 06.02.2024. https://eige.europa.eu/gender-based-violence/risk-assessment-risk-management/principle-4-adopting-intersectional-approach ↩︎
  7. https://www.improdova.eu/pdf/IMPRODOVA_D2.3_Risk_Assessment_Tools_and_Case_Documentation_of_Frontline_Responders.pdf?m=1585673380& ↩︎
  8. Campbell, J. C., Webster, D. W., & Glass, N. (2009). The Danger Assessment: Validation of a Lethality Risk Assessment Instrument for Intimate Partner Femicide. Journal of Interpersonal Violence, 24(4), 653-674. https://doi.org/10.1177/0886260508317180 ↩︎
  9. https://www.dangerassessment.org/About.aspx ↩︎
  10. Hilton, N. Z., Harris, G. T., Rice, M. E., Houghton, R., & Eke, A. W. (2008). An indepth actuarial risk assessment for wife assault recidivism: The Domestic Violence Risk Appraisal Guide. Law and Human Behavior, 32, 150-163. doi:10.1007/s10979-007-9088-6. ↩︎
  11. https://books.google.co.uk/books?id=p1JoYbAAN7QC&printsec=frontcover&source=gbs_ge_summary_r&cad=0#v=onepage&q&f=false ↩︎
  12. https://safelives.org.uk/practice-support/resources-identifying-risk-victims-face ↩︎
  13. For more details see: https://www.theduluthmodel.org/ ↩︎
  14. https://www.dyrias.com/en/ ↩︎
  15. Hegarty K, McKibbin G, Hameed M, Koziol-McLain J, Feder G, Tarzia L, Hooker L. Health practitioners‘ readiness to address domestic violence and abuse: A qualitative meta-synthesis. PLoS One. 2020 Jun 16;15(6):e0234067. doi: 10.1371/journal.pone.0234067. PMID: 32544160; PMCID: PMC7297351. ↩︎
  16. Kersten, J., Burman, M., Houtsonen, J., Herbinger, P., & Leonhardmair, N. (Eds.). (2023). Domestic Violence and COVID-19: The 2020 Lockdown in the European Union. Springer. ↩︎
  17. https://eige.europa.eu/printpdf/news/eu-rights-and-equality-agency-heads-lets-step-our-efforts-end-domestic-violence ↩︎
  18. https://www.unwomen.de/aktuelles/corona-eine-krise-der-frauen.html ↩︎
  19. https://www.unwomen.de/fileadmin/user_upload/Corona/gender-equality-in-the-wake-of-covid-19-en.pdf ↩︎