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Fallbeispiele
Fallstudie – Risikobewertung und Sicherheitsplanung in der Notaufnahme
In Modul 4 haben Sie in einer Fallstudie Sara M, eine 36-jährige Frau, kennengelernt, die mit einer Kopfverletzung und mehreren Hämatomen am linken Arm sowie Prellungen in verschiedenen Stadien der Heilung in die Notaufnahme kam. Sie wurde von ihrem Bruder begleitet, der während der Untersuchung eine kontrollierende Rolle einnahm, Fragen in ihrem Namen beantwortete und die Interaktionen mit der Ärztin genau beobachtete. Sara vermied Blickkontakt und schien zu zögern, eigenständig Informationen preiszugeben.
Weiteres Nachfragen zeigte Ungereimtheiten zwischen der Erzählung von Saras Bruder und den Verletzungen auf. Sara zeigte ein unterwürfiges Verhalten und hatte spürbare Angst vor Körperkontakt. Diese Anzeichen gaben Hinweise auf das Vorliegen von häuslicher Gewalt. Bei einem Gespräch unter vier Augen mit der behandelnden Ärztin öffnete sich Sara und begann zu sprechen:
Ärztin: „Frau M, Sie sollen wissen, dass Sie sich hier in einem sicheren Raum befinden. Alles, was Sie mir erzählen, wird vertraulich behandelt. Es ist wichtig, dass ich alles verstehe, sodass wir Sie bestmöglich behandeln können.“
Sara: (nach einer Pause) „Nun, ähm, eigentlich… habe ich ein paar Probleme zu Hause.“
Ärztin: „Es tut mir leid, das zu hören. Es ist nicht leicht darüber zu reden, aber es ist wichtig, diese Probleme anzusprechen. Fühlen sie sich zu Hause sicher?“
Sara: (schüttelt den Kopf) „Nicht wirklich. Ich habe Angst, dass die Dinge eskalieren könnten.“
Ärztin: „Danke, dass Sie das mit mir teilen. Wir sind hier, um Sie zu unterstützen. Lassen sie uns über einige Strategien zur Verbesserung Ihrer Sicherheit zu Hause sprechen, um Sie besser zu schützen. Haben Sie darüber nachgedacht, wohin Sie gehen könnten, falls Sie das Haus schnell verlassen müssen?“
Sara: (nickt) „Ja, ich habe eine Freundin, bei der ich eine Zeit lang bleiben könnte.“
Ärztin: „Das ist super. Es ist gut, einen Plan zu haben. So wissen Sie im Notfall, wohin Sie gehen können. Lassen Sie uns als Nächstes darüber sprechen, an wen Sie sich wenden können, um Unterstützung zu erhalten. Haben Sie jemanden, dem sie vertrauen? Ein Freund oder eine Freundin? Ein Familienmitglied, dem Sie sich anvertrauen können?“
Sara: „Ja, ich könnte mit meiner Schwester reden.“
Ärztin: „Das ist sehr gut. Jemanden zum Reden zu haben, kann einen großen Unterschied machen. Nun werde ich Ihnen ein paar Fragen stellen, um besser zu verstehen, was passiert ist. Können Sie mir sagen, wie es zu Ihren Verletzungen gekommen ist?“
Sara: „Ähm, das ist ein bisschen kompliziert. Ich hatte einen Streit mit meinem Bruder und die Sache eskalierte…“
Ärztin: „Aha, ich verstehe. Können Sie mir mehr über den Streit erzählen? War körperliche Gewalt im Spiel?“
Sara: „Ja, mein Bruder wurde wütend und fing an, mich zu schlagen. Das ist nicht das erste Mal, dass das passiert ist.“
Ärztin: „Es tut mir leid, das zu hören. Es ist wichtig für mich, mehr über die Häufigkeit und Schwere dieser Vorfälle zu wissen. Wie oft kommt diese Art von Gewalt vor und wurden Sie in der Vergangenheit schon einmal verletzt?“
Sara: „Das kommt jetzt schon eine Weile immer wieder mal vor. Manchmal ist es nur Geschrei, aber manchmal wird er auch handgreiflich. Ich habe schon blaue Flecken und Schnittwunden gehabt.“
Ärztin: „Danke, dass Sie mir das erzählt haben. Gibt es bestimmte Auslöser oder Muster, die zu diesen Vorfällen zu führen scheinen?“
Sara: „Das ist schwer zu sagen. Manchmal fühle ich mich, als ob ich auf Eierschalen laufe. Alles kann meinen Bruder aus der Fassung bringen.“
Ärztin: „Ich verstehe. Es hört sich an, als hätten Sie viel Stress und Anspannung. Ich möchte Ihnen sagen, dass Sie nicht allein sind und dass es Menschen gibt, die Ihnen helfen können, diese schwierige Situation zu meistern. Haben Sie in der Vergangenheit schon einmal daran gedacht, sich an das Gewaltschutzzentrum oder eine Beratungsstelle zu wenden?“
Sara: „Nicht wirklich, aber ich bin offen dafür.“
Ärztin: „Das freut mich zu hören. Ich kann Ihnen Informationen über Einrichtungen geben, die sich auf häusliche Gewalt spezialisiert haben. Es ist wichtig, dass Sie ein Unterstützungssystem haben, um diese schwierige Zeit zu überstehen. Möchten Sie, dass ich einen ersten Kontakt herstelle?“
Sara: „Danke, ich denke, das wäre sehr hilfreich.“
Ärztin: „In Ordnung, ich werde dafür sorgen, dass Sie diese Informationen erhalten, bevor Sie heute gehen. Wenn sie in der Zwischenzeit Fragen oder Bedenken haben, teilen Sie mir diese bitte mit. Ihre Sicherheit und Ihr Wohlbefinden haben für mich oberste Priorität.“
Aufgaben zur Reflexion:
(1) Welche verschiedenen Strategien zur Verbesserung von Saras Sicherheit hat die Ärztin angesprochen?
(2) Anhand welcher Fragen ermutigt die Ärztin Sara, ihre Erfahrungen zu teilen?
(3) Überlegen Sie. wie Informationen zur Häufigkeit und Schwere von Gewalt in die Entwicklung von Sicherheitsplänen einfließen können.
Fallbeispiel – Risikobewertung und Sicherheitsplanung in der Zahnarztpraxis
Sie kennen Frau Hütte bereits aus Modul 3 und Modul 4.
Wir erinnern uns, dass Frau Hütte wegen Zahnschmerzen in eine Zahnarztpraxis gekommen ist. Während der Behandlung fielen der Zahnärztin mehrere Hämatome und periorbitale Petechien auf. Bei der Anfertigung eines Röntgenbildes wurde außerdem ein Kieferbruch diagnostiziert. Im weiteren Verlauf stimmte Frau Hütte der gerichtsfesten Dokumentation zu und erzählte, wie es zu den Verletzungen kam. Dadurch, dass die Therapie des Kieferbruchs mehrere Behandlungs- und Kontrolltermine beinhaltete, baute Frau Hütte ein Vertrauensverhältnis zu ihrer Zahnärztin auf.
Als Frau Hütte nach mehreren Monaten zur Endkontrolle kommt, bemerkt die Zahnärztin frische Verletzungen. Sie dokumentiert die neuen Verletzungen und nimmt diese als Anlass, um erneut das Gespräch mit Frau Hütte zum Thema häusliche Gewalt zu suchen.
Zahnärztin: „Frau Hütte, wie geht es Ihnen? Vor einigen Monaten haben wir über Ihre Situation zu Hause gesprochen. Ist es zu Hause besser geworden? Ich sehe neue Verletzungen an Ihrem Ohr und an der Stirn.“
Frau Hütte (antwortet zögernd): „Es ist … kompliziert. Die Situation hat sich nicht wirklich verbessert. Die Auseinandersetzungen mit Martin treten immer wieder auf.“
Zahnärztin: „Es tut mir leid zu hören, dass Sie weiterhin Schwierigkeiten haben. Gibt es Umstände, die die Gewalt auslösen? “
Frau Hütte: „Ja … Martin wird immer sauer, wenn ich Kontakt zu anderen suche, egal ob ich mit unserer Nachbarin rede oder mit jemandem telefoniere.“
Zahnärztin: „Was passiert, wenn ihr Ehemann ärgerlich wird?“
Frau Hütte: „Er kann dann seine eigene Wut nicht mehr kontrollieren und wird manchmal auch handgreiflich.“
Zahnärztin: „Wird er in letzter Zeit öfters wütend und nimmt die Heftigkeit der Wutausbrüche zu?“
Frau Hütte: „Ja, wenn ich so drüber nachdenke … es passiert schon häufiger in letzter Zeit. Heftiger wird es auch … Er hat sogar einmal einen Teller nach mir geworfen und ich hatte einen großen blauen Fleck in meinem Gesicht.“
Zahnärztin: „Ich mache mir Sorgen um Sie, denn von dem, was Sie mir berichten, nimmt die Häufigkeit und Ausmaß der Gewalt gegen Sie zu. Haben Sie eine Vertrauensperson, mit der Sie sprechen können?“
Frau Hütte: „Nach dem Umzug in unser neues Haus habe ich den Kontakt zu beinahe allen meinen Freunden und meiner Familie verloren. Nur mit meiner Schwester telefoniere ich noch regelmäßig, zum Beispiel wenn Martin arbeiten ist. Sie wohnt 30 Minuten von mir entfernt.“
Zahnärztin: „Das ist gut. Ich würde mit Ihnen nun gerne besprechen, was Sie tun können, wenn Sie sich zu Hause nicht mehr sicher fühlen. Es ist nämlich wichtig, dass Sie einen Ort haben, wo Sie Schutz suchen können, falls die Situation eskaliert. Könnte das beispielsweise Ihre Schwester sein? Außerdem sollten Sie sich überlegen, ob Sie bei ihr Kopien der wichtigsten Dokumente wie Geburtsurkunde und Reisepass deponieren könnten. “
Frau Hütte: „Das muss ich erstmal sacken lassen, denn ich fühle mich gar nicht unsicher zu Hause. Martin wird nur manchmal sehr sauer auf mich und ich bin ja auch immer selbst schuld daran.“
Die Zahnärztin betont am Ende des Gesprächs, dass es niemals in Ordnung ist, jemandem weh zu tun, auch wenn man sich ärgert. Des Weiteren macht sie deutlich, dass Frau Hütte keine Schuld an der Situation trägt. Sie wiederholt, wie wichtig es ist, sich Gedanken zu machen, wohin man gehen könnte, wenn man sich zu Hause nicht mehr sicher fühlt. Sie bietet Frau Hütte an, dass sie sich jederzeit an sie wenden kann. Sie überreicht ihr eine spezielle Visitenkarte, auf der verdeckte wichtige Telefonnummern für solche Fälle stehen.
Aufgaben zur Reflexion:
(1) Welche Kommunikationsstrategien verwendet die Zahnärztin?
(2) Welche speziellen Risikofaktoren, die für eine weitere Zunahme der Schwere der Gewalt sprechen könnten, konnte die Zahnärztin herausfinden?
(3) Wie könnte die Zahnärztin ihrer Patientin weiterhin Hilfe leisten?
Lesenswertes (alles auf Englisch)
- Istanbul Convention
- Risk assessment by police of intimate partner violence against women (presentation)
- The Influence of Victim Vulnerability and Gender on Police Officers’ Assessment of Intimate Partner Violence Risk (article)
- EIGE: Risk assessment and management
- A guide to risk assessment and risk management of intimate partner violence against women for police
- Whittington R, Hockenhull JC, McGuire J, Leitner M, Barr W, Cherry MG, et al. A systematic review of risk assessment strategies for populations at high risk of engaging in violent behaviour: update 2002–8. Health Technol Assess 2013;17(50). (https://www.ncbi.nlm.nih.gov/books/NBK261201/pdf/Bookshelf_NBK261201.pdf)