Modul 7: Prinzipien organisationsübergreifender Zusammenarbeit bei Fällen häuslicher Gewalt (Österreich)

1. Organisationsübergreifende-Zusammenarbeit
2. Zusammenarbeit zwischen Behörden mit Fokus auf den sozialen Sektor
3. Strafverfahren in Fällen von häuslicher Gewalt
4. Strafverfahren bei häuslicher Gewalt in Österreich


Quellen

Lernziele
+ Verstehen der Arbeitsweise von Ersthelfer:innen
+ Erkennen, warum die Zusammenarbeit in multiprofessionellen Teams im Fall von häuslicher Gewalt ausschlaggebend ist.
+ Wissen über den Ablauf von polizeilichen Ermittlungen und Strafverfahren bei häuslicher Gewalt


Dieses Video erklärt, weshalb die Zusammenarbeit in Fällen häuslicher Gewalt von besonderer Bedeutung ist.

1. Organisationsübergreifende Zusammenarbeit1

Die partnerschaftliche Zusammenarbeit mehrerer Einrichtungen ist die wirksamste Art und Weise, auf operativer und strategischer Ebene auf häusliche Gewalt zu reagieren. Aus- und Fortbildung sowie organisatorische Unterstützung und Supervision sind unerlässlich.

Häusliche Gewalt hat schädliche Auswirkungen auf Einzelpersonen, Familien und Beziehungen. Häusliche Gewalt beeinträchtigt Gesundheit und Wohlbefinden von Erwachsenen und Kindern – unabhängig davon, ob sie häusliche Gewalt beobachten oder selbst davon betroffen sind. Sie macht weitere Gesundheits- und Sozialdienstleistungen erforderlich. Alle diese Organisationen und Behörden behandeln die gleichen Probleme auf unterschiedliche Weise, mit verschiedenen Maßnahmen und Ergebnissen.

Kooperation ist insbesondere in Hochrisikofällen unerlässlich, um Lücken im Schutz des Opfers zu vermeiden. Sie ist aber auch in nicht unmittelbar lebensbedrohlichen Fällen wichtig, damit Gewaltopfer sich nicht einer Unzahl von Organisationen und Behörden mit ihren jeweiligen – im schlimmsten Fall widersprüchlichen – Anforderungen gegenübersehen.

Im österreichischen Gewaltschutzsystem können je nach Situation unterschiedliche Einrichtungen involviert sein. Auch regional ergeben sich Unterschiede, da das Angebot an Unterstützungsleistungen nicht überall gleichermaßen ausgebaut ist. Ganz wesentliche Akteur:innen abseits des Gesundheitssektors, die sehr häufig eingebunden sind, sind die folgenden:

  • Gewaltschutzzentren

Gewaltschutzzentren existieren in allen neun Bundesländern. Sie sind spezialisierte und gesetzlich anerkannte Opferschutzeinrichtungen, die all jenen Menschen Hilfe und Unterstützung bieten, die von Gewalt im eigenen Zuhause, im persönlichen Umfeld oder von Stalking bedroht oder betroffen sind. Verhängt die Polizei ein Betretungs- und Annäherungsverbot gegen eine:n Gefährder:in, muss sie das regionale Gewaltschutzzentrum davon in Kenntnis setzen. Berater:innen nehmen daraufhin aktiv Kontakt zum Opfer auf und bieten Hilfe – z.B. bei rechtlichen Schritten – an. Selbstverständlich können sich Gewaltopfer und Personen, die diese unterstützen, auch direkt an die Gewaltschutzzentren wenden. Durch ihren gesetzlichen Auftrag und ihre Expertise – nicht zuletzt in Bezug auf die systematische Risikobewertung – sind Gewaltschutzzentren die zentralen Drehscheiben für den Opferschutz. Weitere Informationen: www.gewaltschutzzentrum.at/

  • Frauenhäuser

In manchen Situationen bietet ein BV/AV nicht ausreichend Schutz und/oder entspricht nicht der Situation und den Bedürfnissen des Opfers. Frauenhäuser, die eine geschützte Unterkunft in Verbindung mit Beratung bieten, sind daher unverzichtbarer Bestandteil des Gewaltschutzsystems. Wenn Opfer im Frauenhaus Zuflucht suchen, übernehmen meisten die dortigen Mitarbeiter:innen die Koordination der Unterstützungsleistungen.

Weitere Informationen: www.aoef.at/, https://frauenhaeuser-wien.at/, https://www.frauenhaeuser.at/ (Steiermark), https://www.ktn.gv.at/Service/Formulare-und-Leistungen/GS-L74 (Kärnten)

  • Polizei

In vielen Fällen bringt erst ein Polizeieinsatz häusliche Gewalt ans Licht. Polizeibeamt:innen müssen, wenn ihrer Einschätzung nach die Gefahr eines gefährlichen Angriffs besteht, Gefährder:innen aus der Wohnung weisen und ein 14-tätiges Betretungs- und Annäherungsverbot (BV/AV) aussprechen. In dieser Zeit darf der:die Gefährder:in die Wohnung, in der das Opfer lebt, nicht betreten und sich der Person nicht auf weniger als 100 Meter nähern. Ein BV/AV bedeutet also auch, dass Gefährder:innen sich Opfern im Krankenhaus nicht nähern dürfen. In den meisten Fällen wird von der Polizei zudem Anzeige – meist wegen Körperverletzung – erstattet und ein Ermittlungsverfahren eingeleitet. Das gilt auch, wenn sich ein Opfer direkt an die Polizei wendet, um Anzeige zu erstatten. Für die weitere Bearbeitung von Fällen häuslicher Gewalt und die Zusammenarbeit mit anderen Organisationen gibt es auf allen Polizeikommissariaten speziell geschulte Präventionsbeamt:innen.

  • Kinder- und Jugendhilfe

Wenn in einem Haushalt, in dem ein BV/AV verhängt wurde, Kinder leben, ist die Polizei verpflichtet, die Kinder- und Jugendhilfe zu informieren. Dort wird in der Folge ein Prozess zur Abklärung einer möglichen Kindeswohlgefährdung eingeleitet, im Zuge dessen u.a. Kontakt mit Opfer und Täter:in aufgenommen wird.

  • Beratungsstellen für Gewaltprävention

Gefährder:innen, gegen die ein BV/AV verhängt wurde, sind verpflichtet, sich binnen fünf Tagen bei einer Beratungsstelle für Gewaltprävention zu melden und eine Beratung in Anspruch zu nehmen. Wird dieser Verpflichtung nicht nachgekommen, stellt das eine Verwaltungsübertretung dar.

Weitere Informationen: www.gewaltinfo.at/themen/geschlechtsspezifische-burschen-und-maennerarbeit/gewaltpraeventionsberatung—ein-neuer-baustein-im-oesterreichischen-gewaltschutz.html

Fallspezifisch können viele weitere Organisationen beteiligt sein – zum Beispiel Frauenberatungseinrichtungen und Kinderschutzzentren.

Für den medizinischen Bereich ist besonders die Etablierung klarer Ansprechpersonen wichtig. Das gilt sowohl innerhalb der jeweiligen Einrichtung, wo meist Personen aus den Opferschutzgruppen (OSG) diese Funktion übernehmen, als auch für die Kooperation mit externen Einrichtungen.

Prinzipien einrichtungsübergreifender Zusammenarbeit

Um eine erfolgreiche Kooperation zu gewährleisten, müssen Prinzipien entwickelt und vereinbart werden, auf die sich alle Beteiligten einigen können. Die unten aufgeführten Punkte können Fachleuten und Organisationen dabei helfen, Grundsätze für eine funktionierende Zusammenarbeit zu etablieren.

  • Verstehen, dass ohne wirksame Prävention und frühzeitige Intervention häusliche Gewalt oft eskaliert. Deshalb ist es wichtig, alle Anstrengungen zu unternehmen, um Erwachsene und Kinder als Opfer häuslicher Gewalt möglichst rasch zu erkennen und zu unterstützen.
  • Bei möglichen Interventionen immer die Sicherheit der Opfer und ihrer Kinder priorisieren.
  • Risikosituationen zu erkennen: In bestimmten Situationen (z. B. Trennung, Hilfesuche, Schwangerschaft) sind Opfer von Partnergewalt besonders gefährdet.
  • Vertraulichkeit und Privatsphäre respektieren, wo immer möglich; die Risiken verstehen, die mit dem Informationsaustausch im Zusammenhang mit häuslicher Gewalt verbunden sind.
  • Gewährleisten, dass Opfer mit Respekt und Würde behandelt werden, indem man ihnen zuhört, ihren Berichten Glauben schenkt und ihnen versichert, dass sie niemals selbst schuld an der Gewalt sind.
  • Ermächtigen Sie Opfer, gut informierte Entscheidungen für sich selbst zu treffen, wo immer möglich. Treffen Sie keine Entscheidungen für sie ohne ihre Beteiligung.
  • Bei der ersten Kontaktaufnahme mit den anderen eingebundenen Einrichtungen die informierte Zustimmung des/der Opfer einholen, um sicherzustellen, dass Informationen zwischen allen Akteuren bei Bedarf ohne Verzögerung ausgetauscht werden können.
  • Alle Vorfälle häuslicher Gewalt sollten erfasst, analysiert und regelmäßig in anonymisierter Form mit den Verantwortlichen der kooperierenden Einrichtungen geteilt werden.
  • Gemeinsame Richtlinien und Verfahren für den Informationsaustausch zwischen den verschiedenen Organisationen entwickeln.
  • Sicherstellen, dass alle Einrichtungen auf die unterschiedlichen Bedürfnisse der Opfer eingehen. Dabei sind zu berücksichtigen: Alter, Geschlecht, Herkunft oder ethnische Zugehörigkeit, Religion oder Weltanschauung, sexuelle Orientierung, Behinderung oder andere Merkmale. Erkennen, dass solche Unterschiede nicht als Entschuldigung oder Rechtfertigung für häusliche Gewalt oder andere schädliche Praktiken dienen dürfen.
  • Ermutigen Sie die Zusammenarbeit mit Täter:inneneinrichtungen, um Risiken auf multiprofessioneller Basis zu bewerten und neue Gewalttaten zu verhindern.
Herausforderungen der einrichtungsübergreifenden Zusammenarbeit2

Grundsätzlich haben verschiedene Einrichtungen unterschiedliche organisatorische Aufgaben, Visionen, Werte, Ziele und Absichten. Sie können auch unterschiedliche Regeln, Vorschriften und Arbeitsmechanismen haben. Dies kann eine effektive Zusammenarbeit erschweren.

Ein gutes Beispiel dafür sind die Unterschiede in den Definitionen und Bezeichnungen, die verwendet werden, um sich auf Opfer zu beziehen: im Strafrechtssystem ist von Opfern die Rede, Schutzeinrichtungen für Frauen sprechen gelegentlich von „Überlebenden“, im Gesundheitssystem ist die Rede von „Patientinnen und Patienten“. In der Arbeit mit Täter:innen wird ebenfalls der Opferbegriff im strafrechtlichen Sinne verwendet, es kann sich aber auch  allgemein um „Klienten und Klientinnen“ handeln.

Die von verschiedenen Behörden und Einrichtungen gesammelten Daten sind im Regelfall nicht vergleichbar: aufgrund von Unterschieden in der Art der Daten, in deren Erfassung oder in der Datenspeicherung. Es kann auch Unterschiede im Verständnis dessen geben, was häusliche Gewalt ausmacht und was ihre Auswirkungen sind. Eine hohe Personalfluktuation ist ebenfalls ein Hindernis und beeinträchtigt die Kommunikation.

Einrichtungen kommunizieren nicht immer miteinander oder dürfen aus datenschutzrechtlichen Gründen keine Informationen austauschen. Folglich müssen von Opfer sämtliche Erfahrungen, einschließlich der Einzelheiten von erlebtem Missbrauch, wiederholt schildern. Die Erinnerung an das Erlebte kann für Opfer traumatisch sein und sie folglich davon abhalten, Unterstützung in Anspruch zu nehmen.


Wie kann man von sexualisierter Gewalt betroffenen Opfern helfen?

Der folgende Aufklärungsfilm des WEISSEN RINGS erklärt, wie sie Personen unterstützen können, die sexualisierter Gewalt erleben oder erlebt haben, wenn sie den Täter oder die Täterin verlassen möchten.



2. Zusammenarbeit zwischen Behörden mit Fokus auf den sozialen Sektor

Beschreibung: Das Video stellt den fiktiven Fall „Rita“ vor. Es zeigt, wie die Zusammenarbeit zwischen Ersthelfer:innen, einschließlich medizinischem Fachpersonal, Nichtregierungsorganisationen (NGOs), Polizei und Sozialarbeiter:innen idealerweise aussehen kann.
Fallstudie: Auswirkung von häuslicher Gewalt auf Kinder

Gabby heiratete nach einer langen Beziehung Nick und zog kurz darauf auf den Bauernhof ihres Mannes. Das Paar war auf dem Bauernhof glücklich und bald bekamen sie das erste Kind. Während der Schwangerschaft begann sich Nicks Verhalten zu verändern, und als die Tochter der beiden geboren wurde, fühlte sich die Beziehung nicht mehr an wie zuvor. Nick wirkte zurückgezogen und verbrachte viel Zeit allein. Er begann, Gabby an Nicks Vater zu erinnern, der Nick gegenüber immer sehr streng gewesen war.

Nicks Verhalten wurde bedrohlich und kontrollierend, insbesondere in Bezug auf Geld und soziale Kontakte. Er wurde bei Auseinandersetzungen zunehmend aggressiv, schrie oft und warf Gegenstände durch den Raum. Gabby dachte, da er sie nicht körperlich verletze, handle es sich nicht um Gewalt. Nick zeigte kein großes Interesse an der Tochter Jane – außer in der Öffentlichkeit, wo er ein vernarrter und liebevoller Vater zu sein schien.

Jane war im Allgemeinen ein wohlerzogenes Kind, aber Gabby stellte fest, dass sie sie nicht allein bei jemand anderem lassen konnte. Dann weinte Jane und verzweifelte sichtlich. Das war für Gabby belastend und bedeutete auch, dass ihre sozialen Aktivitäten weiter eingeschränkt wurden. Jane brauchte lange Zeit, um zu krabbeln, zu gehen und zu sprechen. Ihr Schlafmuster war unregelmäßig und Gabby schlief nachts oft nicht durch, selbst als Jane über 12 Monate alt war. Als Jane zu sprechen begann, entwickelte sie ein Stottern, das ihre Sprachentwicklung weiter behinderte. Gabby machte sich große Sorgen um Jane. Ihr Hausarzt sagte ihr, dass das passieren könne und normal sei und dass sie, wenn die Sprachprobleme fortbestünden, Jane jederzeit zu einem späteren Zeitpunkt zu einem Spezialisten schicken könne.

Nach einigen Jahren wurde Nicks Verhalten für Gabby inakzeptabel. Während der Auseinandersetzungen nahm er nun oft das Gewehr, das er für die Jagd gekauft hatte, in die Hand. Gabby empfand dies als sehr bedrohlich. Immer häufiger wurde Gabby von Gegenständen, die Nick warf, getroffen. Sie hatte zunehmend Angst um ihre Tochter. Gabby beschloss, Nick zu verlassen und wandte sich an das Gewaltschutzzentrum. In Begleitung einer der Beraterinnen erstattete sie Anzeige bei der Polizei, die ein Betretungs- und Annäherungsverbot gegen Nick verhängte.

Als Jane keinen Kontakt mehr zu Nick hatte, änderte sich ihr Verhalten. Janes Entwicklung schien sich zu beschleunigen, und Gabby konnte zuerst nicht verstehen, warum. Bei einer Familienberatungsstelle erörterte sie dieses Thema. Ihre Beraterin erklärte, dass die Entwicklungsverzögerung, das Stottern und die Trennungsangst bei Jane daher gerührt hätten, dass sie in einer Gewaltsituation gelebt hatte.

Zu den zahlreichen Fachleuten und Einrichtungen, die für die Unterstützung von Opfern häuslicher Gewalt von Bedeutung sein können, gehören unter anderem – aber nicht ausschließlich – Polizei, Gewaltschutzzentren, praktische und Fachärzt:innen, Kinder- und Jugendhilfe, psychosoziale Dienste, Opferschutzeinrichtungen für Opfer sexueller Gewalt, Sozialämter, Einrichtungen für Drogenmissbrauch, , Wohnberatungen/Wohnungsämter.

Adaptiert nach einer Fallstudie aus RACGP (2014): Abuse and Violence: Working with our patients in general practice

Überweisungen an Anbieter von Gesundheitsdiensten

Zusammenarbeit mit anderen Dienstleistungsanbietern, um integrierte Protokolle und effektive Überweisungsnetzwerke zu entwickeln und zu implementieren:

  • Vernetzung der Opfer mit den erforderlichen Gesundheits- und Sozialdiensten wie Notunterkünften sowie medizinischen und psychologischen Versorgungseinrichtungen
  • Koordination von Folgemaßnahmen und deren Institutionalisierung
  • Entwickeln von Standards für Überweisungsdienste
  • Sicherstellen, dass die gesamte Kommunikation zwischen den Dienstleistungs-anbietern urteilsfrei, einfühlsam und unterstützend ist
  • Feststellen des Bedarfs an standardisierten Datenaustauschprotokollen
Kommunikation zwischen Justizbehörden

Gewährleistung eines wirksamen Informationsaustauschs zwischen den Anbietern von Justizdienstleistungen:

  • Opfer oder Überlebende und/oder die Eltern/Erziehungsberechtigten und Rechtsvertreter/innen werden, wo immer möglich, um eine informierte Zustimmung zur Weitergabe von Informationen gebeten.
  • Informationen werden im Rahmen der Datenschutz- und Vertraulichkeitserfordernisse weitergegeben.
  • Informationen sollten nur für den Zweck, für den sie beschafft oder zusammengestellt wurden, oder für eine mit diesem Zweck übereinstimmende Verwendung offengelegt werden.
Verfahren und Informationsaustausch

Die verschiedenen Dienstleister legen schriftliche Verfahren zur Risikobewertung und zum Risikomanagement fest, insbesondere zu Zielen, Verantwortlichkeiten und Rollen der Fachleute sowie zu Dauer und Methoden der Risikobewertung und des Risikomanagements, nämlich:

  • zur Ermittlung relevanter Informationsquellen, wie z. B. die vom Opfer/Überlebenden aufgedeckte Geschichte der Gewalt,
  • zur Definition der zu verwendenden Instrumente,
  • zum Entwurf von Plänen zur Situationssicherheit.

Die aus der Risikoabschätzung gewonnenen Informationen sollten in einem klaren und objektiven schriftlichen Bericht enthalten sein und mehrere Bereiche abdecken: Gewaltgeschichte, psychosoziale Vorgeschichte, aktuelle psychosoziale Anpassung des Täters/der Täterin, Kontext der Erfahrungen der Opfer/Überlebenden und eine schlüssige Stellungnahme zum dargestellten Gewaltrisiko.

Die multiinstitutionelle Zusammenarbeit ist für eine erhöhte Sicherheit von Frauen und Kindern von größter Bedeutung und erfordert einen Prozess des Informationsaustausches. 

Der Informationsaustausch zwischen verschiedenen Organisationen kann dazu beitragen:

  • neue Ideen und Lösungen im Bereich der Prävention und Intervention zu finden und diese kohärenter und effektiver zu gestalten,
  • die Komplexität der Gewaltdynamik des Falles zu erfassen,
  • erneute häusliche Gewalt zu reduzieren.

Der Informationsaustausch kann mit einem der Grundprinzipien der Intervention in Konflikt geraten: der Vertraulichkeit und dem Recht auf Privatsphäre. Strategien der Informationssammlung und -verbreitung müssen anerkannte ethische Standards unter Achtung der Menschenrechte berücksichtigen.

Die Weitergabe von Informationen sollte den folgenden Prinzipien entsprechen: 

  • Sicherheit: Informationen sollten auf sichere Weise weitergegeben werden und das Risiko für das Opfer/den/die Überlebende/n und die Kinder nicht dadurch erhöhen, dass sie sich in einer verletzlicheren Situation befinden;
  • Objektivität: Informationen sollten auf objektive Weise und ohne Beurteilung/Verurteilung übermittelt werden;
  • Notwendigkeit: Es sollten nur Informationen berücksichtigt werden, die für die Erstellung eines wirksamen Sicherheitsplans relevant sind.
Abbildung: Grundlegende Anforderungen an einen Informationsaustauschprozess
Quelle: übersetzt aus Avaliação e Gestão de Risco em Rede: Manual para Profissionais [Vernetzte Risikobewertung und -management: Handbuch für Fachleute], herausgegeben von der Frauenvereinigung gegen Gewalt (AMCV), Lissabon: 2013 (nur portugiesische Fassung) ISBN: 978-989-98600-1-8

3. Strafverfahren in Fällen von häuslicher Gewalt

Das sind die einzelnen Schritte vom Gewaltvorfall bis zum Gerichtsverfahren.

  • Häusliche Gewalt tritt auf: Gewalt erfolgt durch einen (ehemaligen) Partner oder ein Familienmitglied. Dabei kann es sich um verschiedene Formen von Gewalt handeln, darunter körperliche, psychische, sexuelle, digitale oder finanzielle.
  • Die Polizei ist verpflichtet, bei unmittelbar bevorstehender Gewalt ein Betretungs- und Annäherungsverbot (auf 100 Meter) gegen den:die Gefährder:in zu verhängen. Dieses bleibt 14 Tage lang aufrecht.
  • Strafanzeige: Die Anzeige des Vorfalls, die häufig durch das Opfer selbst erfolgt, dient als formale Einleitung des Strafverfahrens. Eine Anzeige zu erstatten, kann für die Opfer eine schwierige Entscheidung sein, und wenn ein Opfer keine Anzeige erstatten möchte, sollte das respektiert werden. Die Anzeige kann jedoch ein wichtiger Schritt sein, um Hilfe zu erhalten und die Täter:innen zur Rechenschaft zu ziehen. Wenn die Polizei von einer Straftat erfährt, muss sie diese verfolgen (Offizialprinzip), auch wenn das Opfer keine Anzeige erstatten möchte.
  • Gewaltopfer haben das Recht auf psychosoziale und juristische Prozessbegleitung, d.h. sie können bereits bei der polizeilichen Einvernahme durch Mitarbeiter:innen von Opferschutzeinrichtungen begleitet werden.
  • Polizeiliche Erhebungen und Dokumentation: Zunächst werden die Aussagen des Opfers, von Zeug:innen und des/der Tatverdächtigen aufgenommen. Außerdem muss die Polizei weitere Beweise wie Fotos von Verletzungen sammeln und alle relevanten Dokumente oder Gegenstände sicherstellen, die vor Gericht als Beweismittel verwendet werden könnten.
  • Unterstützung: Dem Gewaltopfer wird Unterstützung und Schutz angeboten. Dies kann etwa die akute medizinische Versorgung von Verletzungen, die Information über Opferschutzeinrichtungen oder die Begleitung zu einem Frauenhaus umfassen. Unterstützung ist wichtig, um die emotionalen und praktischen Bedürfnisse der Opfer in dieser schwierigen Zeit zu erfüllen.
  • Strafverfolgung: Die Polizei übermittelt sämtliche Beweismittelan die Staatsanwaltschaft. Diese entscheidet, ob sie das Verfahren einstellt oder einen Strafantrag einbringt bzw. Anklage gegen den mutmaßlichen Täter/die mutmaßliche Täterin erhebt.

4. Strafverfahren bei häuslicher Gewalt in Österreich

Opfern von häuslicher Gewalt stehen mehrere Wege offen, Anzeige zu erstatten. Sie können die Polizei direkt telefonisch über die Nummer 133 kontaktieren oder eine Polizeistation aufsuchen. Sie können sich aber auch als ersten Schritt an eine Opferschutzorganisation – insbesondere an ein Gewaltschutzzentrum – wenden, um bei der Anzeigeerstattung begleitet und unterstützt zu werden. Verletzte Opfer, die ein Krankenhaus aufsuchen, werden dort von der Opferschutzgruppe betreut, die außerdem forensische Beweise sichert.

Die polizeiliche Reaktion auf häusliche Gewalt wurde erstmalig durch das Gewaltschutzgesetz 1997 normiert, darauf folgten das 2. Gewaltschutzgesetz 2009 sowie das 3. Gewaltschutzgesetz 2019. Wichtige Eckpfeiler des Gewaltschutzes sind:

  • Als Schutzmaßnahme bei unmittelbar bevorstehender Gewalt verhängt die Polizei ein Betretungs- und Annäherungsverbot (§ 38a SPG), das Gefährder:innen zwei Wochen lang untersagt, sich der gefährdeten Person bzw. deren Wohnort zu nähern. Die Schutzperiode verlängert sich auf vier Wochen, wenn die gefährdete Person beim Familiengericht eine Einstweilige Verfügung für einen längerfristigen Schutz (sechs bis zwölf Monate) beantragt. Es bestehen gesetzliche Maßnahmen zum Schutz vor Gewalt in Wohnungen (§ 382b EO) und zum Schutz vor allgemeiner Gewalt (§ 382c EO), die auch gemeinsam beantragt werden können.
  • Die einschreitenden Polizeibeamt:innen sind verpflichtet, die gefährdete Person über ihre Rechte und Möglichkeiten zu informieren, dazu zählen etwa die Unterstützung durch ein Gewaltschutzzentrum und das Angebot der Prozessbegleitung.
  • Betretungs- und Annäherungsverbote müssen von der Polizei umgehend an das zuständige Gewaltschutzzentrum übermittelt werden. Dieses kontaktiert die gefährdete Person und bietet psychosoziale und rechtliche Unterstützung an. In der Folge werden ein Sicherheitsplan und eine Gefährdungseinschätzung erstellt, gegebenenfalls erfolgt Hilfestellung bei einem Antrag auf Einstweilige Verfügung, auf soziale Sicherung o.ä.
  • Gefährder:innen, gegen die ein Betretungs- und Annäherungsverbot ausgesprochen wurde, sind dazu verpflichtet, eine Beratungsstelle für Gewaltprävention aufzusuchen.
  • Wenn im Haushalt Kinder leben, muss die Polizei auch die Kinder- und Jugendhilfe sowie Schulen und Kinderbetreuungseinrichtungen über das Betretungs- und Annäherungsverbot informieren.

Das österreichische Strafgesetz kennt keine ausdrückliche Kriminalisierung von häuslicher Gewalt, nennt aber die Begehung von vorsätzlichen Straftaten im Familienkreis explizit als Erschwerungsgrund bei der Strafbemessung (§ 33 Abs.2 StGB). Bei Gewaltdelikten handelt es sich um Offizialdelikte, d.h. die Polizei ist grundsätzlich – unabhängig von den Wünschen des Opfers – verpflichtet, Anzeige zu erstatten.

Wenn ein Verdacht auf Kindeswohlgefährdung vorliegt, besteht für verschiedene Einrichtungen eine Mitteilungspflicht an die Kinder- und Jugendhilfe. Das betrifft unter anderem Gerichte und Behörden, das Schulwesen und das Gesundheitswesen (§ 38 Bundes-Kinder- und Jugendhilfegesetz 2013).

Seit 2006 haben Opfer von vorsätzlich begangenen Gewalttaten und von gefährlicher Drohung Anspruch auf psychosoziale und juristische Prozessbegleitung im Strafverfahren sowie in daraus resultierenden Zivilverfahren. Psychosoziale Prozessbegleitung soll dabei helfen, die Belastung durch das Verfahren zu minimieren sowie verfügbare Unterstützung und rechtliche Möglichkeiten besser auszuschöpfen. Dazu zählen etwa die Begleitung zu Polizei und Gericht oder das Erklären von rechtlichen Schritten. Die Prozessbegleitung wird vom Bundesministerium für Justiz finanziert und von Opferschutzeinrichtungen durchgeführt.

Eckpunkte des Strafverfahrens:

  • Das Strafverfahren beginnt mit dem Ermittlungsverfahren, das die Staatsanwaltschaft in Zusammenarbeit mit der Kriminalpolizei leitet. Ziel ist die Aufklärung des Sachverhalts bzw. eines Tatverdachts durch Ermittlungen. In dieser Phase werden etwa Zeug:innen, auch das Opfer, einvernommen. Nach Vorlage des Abschlussberichts durch die Polizei entscheidet die Staatsanwaltschaft über das weitere Vorgehen, insbesondere Verfahrenseinstellung oder Anklageerhebung/Strafantrag.
  • Eine Einstellung des Strafverfahrens kann aus verschiedenen Gründen erfolgen. Der häufigste Grund liegt darin, dass die Staatsanwaltschaft keine strafrechtlich relevanten Handlungen wahrnimmt. Auch im Fall einer gelungenen Diversion (v.a. Tatausgleich) wird das Strafverfahren eingestellt. Unter bestimmten, eng gefassten Voraussetzungen kann das Opfer einen Antrag auf Fortführung des Ermittlungsverfahrens stellen (§ 195 StPO).
  • Das Hauptverfahren beginnt mit der Einbringung der Anklage. In der Hauptverhandlung werden der:die Angeklagte und Zeug:innen einvernommen sowie Sachbeweise vorgelegt. Häufig sagt das Opfer nicht in der Hauptverhandlung aus, sondern bereits vorher im Zuge einer kontradiktorischen Einvernahme. Damit wird ein Zusammentreffen mit dem:der Angeklagten verhindert. Psychosoziale und juristische Prozessbegleitung stehen auch hier zur Verfügung. Wenn das Opfer einen Schadenersatzanspruch gegen den:die Angeklagte:n hat, muss dieser meist in einem Zivilverfahren eingeklagt werden.

Die Unterstützungsleistungen für Opfer von Gewalt enden nicht mit der Urteilsverkündung. So wird etwa im Rahmen der psychosozialen Prozessbegleitung eine Abschlussbesprechung angeboten. Opfer von Partnergewalt oder einer Zwangsehe, deren Aufenthaltstitel vom Täter/von der Täterin abhängt, erhalten in der Regel eine einjährige Aufenthaltserlaubnis (§ 27 NAG).




Quellen

  1. https://www.improdova.eu/pdf/IMPRODOVA_D2.4_Gaps_and_Bridges_of_Intra-_and_Interagency_Cooperation.pdf?m=1585673383& ↩︎
  2. https://www.improdova.eu/pdf/IMPRODOVA_D2.4_Gaps_and_Bridges_of_Intra-_and_Interagency_Cooperation.pdf?m=1585673383& ↩︎