Zusammenarbeit mit anderen Behörden
Die beteiligten Dienste sollten Teil eines auf den Bereich häusliche Gewalt spezialisierten Gesamtnetzwerks sein und nicht unabhängig voneinander agieren. Die Organisationen/Einrichtungen, die das Netzwerk bilden, sollten ein möglichst breites Spektrum an Ressourcen anbieten und sich auf gemeinsame Konzepte und Prinzipien, die Rollen und Kompetenzen der einzelnen Dienste, die anzuwendenden Verfahren und die Art und Weise, wie sie miteinander kommunizieren, einigen, indem sie Rollen und Verantwortlichkeiten (Organigramm), Protokolle, Aktionspläne und Überwachung festlegen.
Mit der Enthüllung häuslicher Gewalt sind auch bestimmte Melde- und Anzeigepflichten verbunden, die je nach Berufsgruppe variieren. In Österreich betrifft das neben der polizeilichen Anzeigepflicht bei Verdacht auf Offizialdelikte auch die Anzeige- und Meldepflicht pädagogischer und psychosozialer Berufsgruppen bei Verdacht auf unmittelbare Selbst- oder Fremd- sowie Kindeswohlgefährdung. Medizinische Berufe unterliegen ebenfalls speziellen Meldepflichten, die in den jeweiligen Berufsgesetzen geregelt sind (z. B. in: Bundes-Kinder- und Jugendhilfegesetz 2013, Wiener Kindergartengesetz, Wiener Tagesbetreuungsgesetz, Schulunterrichtsgesetz; Psychotherapiegesetz, Psychologengesetz 2013 und Musiktherapiegesetz).
Die Organisationen/Einrichtungen sollten zusammenarbeiten, um sicherzustellen, dass die verfügbaren Ressourcen effektiv und optimal genutzt werden, um den Bedürfnissen der Opfer/Überlebenden und aller von häuslicher Gewalt Betroffenen gerecht zu werden und um erneute Gewalt zu verhindern. Zudem sollten die Kommunen bei der Mobilisierung vorhandener Ressourcen und dem Aufbau von Netzwerken eine Schlüsselrolle spielen.
Bei der Prävention erneuter Gewalttaten ist die Kooperation mit Organisationen und Behörden in der Täterarbeit essenziell. Dazu zählen insbesondere Männerberatungsstellen, Einrichtungen für Bewährungs- und Haftentlassenenhilfe sowie Justizbehörden und darin angebundene Soziale Dienste (Justizanstalten, Staatsanwaltschaft, Gerichte, Rechtsanwälte und Rechtsanwältinnen). Diese Einrichtungen arbeiten mit den Tätern und Täterinnen sowohl nach einem Gewaltvorfall als auch vor neuerlicher Begehung einer Gewalttat. Von diesen Einrichtungen können daher entsprechende Risikoindikatoren beobachtet werden, die dem Schutz der Betroffenen dienen. Justizanstalten, Staatsanwaltschaft und Gericht sind daher insbesondere in Bezug auf die Verhängung einer Untersuchungshaft sowie auf das Risiko bei Enthaftung oder Entlassung von Tätern und Täterinnen wichtige Kooperationspartner für den Opferschutz.

Quelle: aus dem Europäischen Handbuch zur Risikobewertung, herausgegeben von Sabine Wiemann, publiziert von BUPNET GmbH, Göttigen, 2013 (ISBN 978-989-96045-3-7)
Überweisungen an Anbieter von Gesundheits- und Sozialdiensten
Zusammenarbeit mit anderen Dienstleistungsanbietern, um integrierte Protokolle und effektive Überweisungsnetzwerke zu entwickeln und zu implementieren:
- Vernetzung der Opfer mit den erforderlichen Gesundheits- und Sozialdiensten wie Notunterkünften sowie medizinischen und psychologischen Versorgungseinrichtungen
- Koordination von Folgemaßnahmen und deren Institutionalisierung
- Entwickeln von Standards für Überweisungsdienste
- Sicherstellen, dass die gesamte Kommunikation zwischen den Dienstleistungs-anbietern urteilsfrei, einfühlsam und unterstützend ist
- Feststellen des Bedarfs an standardisierten Datenaustauschprotokollen
Kommunikation zwischen Justizbehörden
Gewährleistung eines wirksamen Informationsaustauschs zwischen den Anbietern von Justizdienstleistungen:
- Opfer oder Überlebende und/oder die Eltern/Erziehungsberechtigten und Rechtsvertreter/innen werden, wo immer möglich, um eine informierte Zustimmung zur Weitergabe von Informationen gebeten.
- Informationen werden im Rahmen der Datenschutz- und Vertraulichkeitserfordernisse weitergegeben.
- Informationen sollten nur für den Zweck, für den sie beschafft oder zusammengestellt wurden, oder für eine mit diesem Zweck übereinstimmende Verwendung offengelegt werden.
- Protokolle und Überweisungsmechanismen, die einen zeitnahen und effizienten Informationsfluss zwischen den verschiedenen Diensten fördern, sollten entwickelt werden.
Verfahren und Informationsaustausch
Die verschiedenen Dienstleister legen schriftliche Verfahren zur Risikobewertung und zum Risikomanagement fest, insbesondere zu Zielen, Verantwortlichkeiten und Rollen der Fachleute sowie zu Dauer und Methoden der Risikobewertung und des Risikomanagements, nämlich:
- zur Ermittlung relevanter Informationsquellen, wie z. B. die vom Opfer/Überlebenden aufgedeckte Geschichte der Gewalt,
- zur Definition der zu verwendenden Instrumente,
- zum Entwurf von Plänen zur Situationssicherheit.
Die aus der Risikoabschätzung gewonnenen Informationen sollten in einem klaren und objektiven schriftlichen Bericht enthalten sein und mehrere Bereiche abdecken: Gewaltgeschichte, psychosoziale Vorgeschichte, aktuelle psychosoziale Anpassung des Täters/der Täterin, Kontext der Erfahrungen der Opfer/Überlebenden und eine schlüssige Stellungnahme zum dargestellten Gewaltrisiko.
Die multiinstitutionelle Zusammenarbeit ist für eine erhöhte Sicherheit von Frauen und Kindern von größter Bedeutung und erfordert einen Prozess des Informationsaustausches.
Der Informationsaustausch zwischen verschiedenen Organisationen kann dazu beitragen:
- neue Ideen und Lösungen im Bereich der Prävention und Intervention zu finden und diese kohärenter und effektiver zu gestalten,
- die Komplexität der Gewaltdynamik des Falles zu erfassen,
- erneute häusliche Gewalt zu reduzieren.
Der Informationsaustausch kann mit einem der Grundprinzipien der Intervention in Konflikt geraten: der Vertraulichkeit und dem Recht auf Privatsphäre. Strategien der Informationssammlung und -verbreitung müssen anerkannte ethische Standards unter Achtung der Menschenrechte berücksichtigen.
Die Weitergabe von Informationen sollte den folgenden Prinzipien entsprechen:
- Sicherheit: Informationen sollten auf sichere Weise weitergegeben werden und das Risiko für das Opfer/den/die Überlebende/n und die Kinder nicht dadurch erhöhen, dass sie sich in einer verletzlicheren Situation befinden;
- Objektivität: Informationen sollten auf objektive Weise und ohne Beurteilung/Verurteilung übermittelt werden;
- Notwendigkeit: Es sollten nur Informationen berücksichtigt werden, die für die Erstellung eines wirksamen Sicherheitsplans relevant sind.

Quelle: übersetzt aus Avaliação e Gestão de Risco em Rede: Manual para Profissionais [Vernetzte Risikobewertung und -management: Handbuch für Fachleute], herausgegeben von der Frauenvereinigung gegen Gewalt (AMCV), Lissabon: 2013 (nur portugiesische Fassung) ISBN: 978-989-98600-1-8
Beispiele guter Praxis
Im Rahmen des EU-Projekts IMPRODOVA wurden verschiedene Beispiele guter Praxis der Zusammenarbeit in multiprofessionellen Teams in Deutschland identifiziert.
Berliner Initiative gegen Gewalt an Frauen (BIG e.V.)
Die 1993 gegründete „Berliner Initiative gegen Gewalt an Frauen“ (im Folgenden: BIG) setzt sich dafür ein, die Lebensbedingungen von Frauen, die von häuslicher Gewalt betroffen sind, einschließlich ihrer Kinder, zu verbessern. BIG setzt sich dafür ein, soziale und berufliche Bedingungen im Bereich der Ersthilfe bei häuslicher Gewalt zu schaffen, die die Inzidenz häuslicher Gewalt verringern und den von häuslicher Gewalt Betroffenen besseren Schutz und angemessene Unterstützung bieten. Dazu gehören die Stärkung der Rechte der Opfer und die Gewährleistung, dass misshandelnde Männer für ihre Handlungen zur Verantwortung gezogen werden. Nur wenn die Praktiken in allen relevanten Bereichen verbessert werden, hält man dies für möglich und nachhaltig. Um diese Arbeit durchführen zu können, sind daher ein multiprofessionelles, gut vernetztes und aktives Netzwerk und ein kooperativer Ansatz wie der von BIG erforderlich.
Berliner Initiative gegen Gewalt an Frauen (BIG e.V.)
BIG umfasst drei Arbeitseinheiten: BIG-Koordination, BIG-Hotline und BIG-Prävention.
Die BIG-Koordination etabliert eine interorganisationale Zusammenarbeit, indem sie alle relevanten Berufsgruppen und gesellschaftlichen Kräfte, die mit häuslicher Gewalt zu tun haben, einbezieht und effiziente Kooperationsstrukturen für sie schafft.
Die BIG-Koordination konzentriert sich auf die drei Gruppen, die an häuslicher Gewalt beteiligt sind (Opfer, Kinder und Täter bzw. Täterin), analysiert Praktiken oder Lücken, um dann Praktiken zu entwickeln oder zu verbessern, die den Schutz der Opfer verbessern und erhöhen. Ihre Arbeitsmethoden zielen darauf ab, zunächst Schwächen und Lücken in der Praxis durch Rückmeldungen von Opfern und dem Kooperationsnetzwerk zu identifizieren. Die identifizierten Probleme beziehen sich z. B. auf Schwierigkeiten mit Behörden oder in der Zusammenarbeit, harte Verfahren, fehlende Angebote für bestimmte Zielgruppen, Gesetzeslücken usw. Die BIG-Koordination lädt dann die für ein Problem zuständigen Experten und Expertinnen ein, um gemeinsam Lösungen zu entwickeln, die im besten Fall in der Praxis umgesetzt werden können.
Das Kooperationsnetzwerk der BIG-Koordination
Die BIG-Koordination verfügt über ein extrem großes und breit gefächertes Kooperations-netzwerk, an dem alle relevanten Akteure und Akteurinnen verschiedener Berufe und Institutionen beteiligt sind.
- Psychosozialer Sektor: alle Beratungs- und Interventionsstellen, Projekte und Initiativen im Kontext häuslicher Gewalt und verwandter Bereiche, alle Frauenhäuser in Berlin sowie zahlreiche weitere in Deutschland, Asylunterkünfte, Jobcenter und viele mehr
- Bereich der Kinder- und Jugendhilfe: insbesondere Jugendämter, Kindernotruf, Mädchennotruf und z. B. ein Kindertheater
- Gesundheitssektor: Krankenhäuser, Traumakliniken, die Berliner Ambulanz zum Schutz vor Gewalt zur Dokumentation der Verletzungen und S.I.G.N.A.L. e.V., eine weitere koordinierende NGO in Berlin, spezialisiert auf Interventionen im Gesundheitssektor bei sexualisierter und häuslicher Gewalt
- Exekutive: Beamte und Beamtinnen der Polizei Berlin auf verschiedenen Ebenen von der Basis bis zum Hauptsitz
- Justizsektor: Rechtsanwälte, Bezirks- und Staatsanwälte, Familiengerichte
- Bildungssektor: Schulen und andere Bildungseinrichtungen, einschließlich Universitäten
- Politischer Sektor: alle relevanten Senatsverwaltungen sowie die Landeskommission gegen Gewalt, Integrationsbeauftragte des Berliner Senats, Gleichstellungsbeauftragte der Bezirke
Arbeitsmaßnahmen
- Arbeitsgruppen kommen oft nur für eine ganz bestimmte Frage oder ein ganz bestimmtes Dilemma zusammen. Ein Beispiel für eine solche Praxis ist eine Expertengruppe, die sich mit Risikobewertung und Fallkonferenzen befasst.
- Im Gegensatz zu den Arbeitsgruppen, die nur übergangsweise gebildet werden, gibt es auch eine Reihe regelmäßiger runder Tische. Ziel ist der Austausch von Informationen über aktuelle Entwicklungen, Anforderungen und Herausforderungen im Zusammenhang mit der Polizeiarbeit.
Ergebnisse der multiprofessionellen Zusammenarbeit
- Das Gewaltschutzgesetz (2002) geht auf eine Initiative der BIG-Koordination zurück.
- Die Berliner Definition häuslicher Gewalt (2001) ist seit fast zwei Jahrzehnten gültig.
- Das Vorgehen der Polizei bei häuslicher Gewalt beinhaltet einen proaktiven Ansatz. Dieser ist auch in den polizeilichen Qualitätsstandards verankert. Damit soll den Opfern der Zugang zu geeigneten Unterstützungsangeboten erleichtert werden: Mit dem Einverständnis des Opfers gibt die Polizei Berlin die Kontaktdaten an die BIG-Hotline weiter und ein Berater bzw. eine Beraterin nimmt innerhalb kurzer Zeit telefonisch Kontakt mit dem Opfer auf.
- Gerade im Bereich der Aus- und Fortbildung ist durch die BIG-Koordination, die auch Schulungs- und Informationsveranstaltungen anbietet, viel erreicht worden. Das ist wichtig – schließlich ist die Weiterbildung eine wirksame Maßnahme, um die erzielten Ergebnisse in der Praxis zu festigen.
HAIP-Netzwerk (Hannoveraner Interventionsprogramm gegen häusliche Gewalt)
Das HAIP-Netzwerk wurde 1997 vom „Runden Tisch gegen Männergewalt in der Familie“ (gegründet 1992) entwickelt und als Versuch, die Arbeit gegen häusliche Gewalt zu strukturieren, ins Leben gerufen. Es arbeitet seitdem erfolgreich als interdisziplinär vernetztes Programm.
Hannoveraner Interventionsprogramm gegen häusliche Gewalt (HAIP)
Ziele des HAIP
- Den von häuslicher Gewalt Betroffenen umfassenden Schutz, Hilfe und Unterstützung bieten
- Den Täter bzw. die Täterin zur Rechenschaft und zur Verantwortung ziehen und eine Verhaltensänderung erreichen
- Häusliche Gewalt durch eine vernünftig vernetzte Intervention aller Beteiligten verringern und eine nachhaltige, langfristige Unterstützung, Beratung und Intervention sicherstellen
- Prävention, Information und Öffentlichkeitsarbeit fördern
- Öffentlich Stellung gegen häusliche Gewalt und für Geschlechtergerechtigkeit beziehen und eine an gesellschaftlichen Entwicklungen und Notwendigkeiten orientierte Arbeit leisten
- Insgesamt strebt HAIP im Kampf gegen häusliche Gewalt eine proaktive, schnelle Reaktion gegenüber Opfern und Tätern bzw. Täterinnen von häuslicher Gewalt an.
Runder Tisch
Das größte Gremium ist der „Runde Tisch“, der zweimal im Jahr zusammenkommt. Mitglieder und HAIP-Ausschüsse informieren sich gegenseitig über ihre Arbeit und Aktivitäten, die entsprechend dem Zweck des „Runden Tisches“ durchgeführt werden. Sie treffen Entscheidungen über die Arbeit von HAIP, einschließlich Entscheidungen, die in die Politik gehen, entwickeln Meinungen zu aktuellen Themen und verteilen dementsprechende Arbeitsaufträge an die HAIP-Ausschüsse. Dazu gehören etwa 40 verschiedene Institutionen, darunter Frauenschutzhäuser, das Jugendamt, das Amt für Chancengleichheit, das medizinische Netzwerk, verschiedene Beratungsstellen, Staatsanwält/innen, Richter/innen, Polizei und Vertreter/innen aller politischen Fraktionen im Stadtrat.
Bausteine
Das Zentrum oder Herzstück des HAIP ist der Ausschuss, der sich mit konkreten Fällen befasst: die elf Bausteine. Sie arbeiten unabhängig und führen z. B. Fallbesprechungen insbesondere bei Fällen mit hoher Risikobewertung durch. Zusätzlich werden dort Aufträge und Themen des „Runden Tisches“ sowie eigene Fragen, Falldarstellungen etc. bearbeitet. Darüber hinaus beteiligen sich die Bausteine an der Öffentlichkeitsarbeit von HAIP und organisieren Fachkurse, Vorträge, Schulungen und Seminare.
Die elf Bausteine sind:
- Koordinationsstelle „BISS“,
- Schutzhaus für Frauen und Kinder,
- Staatsanwaltschaft Hannover,
- Polizei Hannover,
- Jugendamt „Waage e.V.“ (Beratung bei Täter-Opfer-Vereinbarungen),
- Männerbüro Hannover e.V.,
- Empowerment-Stelle („Bestärkungsstelle“, Beratung für weibliche Opfer),
- „SUANA“ (Beratung für Migrantinnen),
- leitende/r Direktor/in des HAIP-Büros,
- Gleichstellungsbeauftragte/r.